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Eliot Pattison
Das Auge von Tibet
Rütten & Loening,
Berlin, 2002

Foto: Archiv
Mit der Bezeichnung Ethno-Krimi wird viel Schindluder getrieben. Ein bisschen exotische oder wahlweise rural-bodenständige Kulisse mit den alten Schemata und fertig ist der Etikettenschwindel. Eliot Pattison ist das genaue Gegenteil davon. Seine bislang zwei dicken Bücher über das schwierige und tragische Schicksal Tibets unter chinesischer Besatzung haben einen furchtbar realen Hintergrund. Mit seiner Hauptfigur, dem ehemaligen Ermittler Shan zeichnet der amerikanische Autor zudem eine komplexe Persönlichkeit, die zwischen zwei antagonistischen Welten lebt und als Lernender auf dem Weg zu sich selbst ist. Der Chinese Shan ist zwischen alle Fronten geraten. Die einheimischen Tibeter misstrauen ihm, weil er dem Volk der Unterdrücker angehört; für die eigenen Leute ist er ein politisch unzuverlässiges Subjekt, das jederzeit wieder ins Gefängnis oder ins Straflager, dem er gerade erst entronnen ist, zurückgeschickt werden kann. In dieser prekären Situation wird Shan um Hilfe gebeten. Eine Serie mysteriöser Kindermorde verstört die Einheimischen. Es handelt sich um Schüler von lamaistischen Lehrern, die ihr Wissen im Untergrund weitergeben. Was ist an diesen Waisenkindern so bedrohlich, dass sie umgebracht werden? Nachrichten und Botschaften schlagen Haken, müssen entschlüsselt werden, fremde Symboliken und Riten bleiben rätselhaft, die Untergrundnetze der Informanten geheimnisvoll. Das weite Land an der Grenze im Norden erfordert tage- und wochenlanges Reisen. Und es ist ein Land mit vielen Kulturen, Völkern und Religionen. Kasachen, Uiguren, Tibeter, versprengte Russen, amerikanische Archäologen, Muslime, Buddhisten, argwöhnische kommunistische Kader, alle verfolgen ihre eigenen Ziele. Die Zentralmacht in Peking ist weit und gerade darum gnadenlos. Was Pattison mit großer Empathie und Plastizität schildert, ist die bewusste Zerstörung einer Kultur, die, da weitgehend nomadistisch, von vornherein verdächtig ist. Umherziehende kann man schwer unter Kontrolle bringen, also muss man sie der Viehherden, die die Grundlagen für die Lebensweise der Nomaden sind, enteignen. Über die äußerste Brutalität, mit der dies geschieht, dringt aus diesem vom Rest der Welt abgeschnittenen Gebiet wenig nach außen. Pattison arbeitet mit erstaunlich detaillierten Hintergrundinformationen. Er scheint über die Polit- und Befehlsstrukturen der chinesischen Besatzer sehr gut Bescheid zu wissen. Was er beschreibt, ist schockierend und herzzerreißend. Dass er dabei die übersinnlichen Fähigkeiten der tibetischen Lamas manchmal überstrapaziert, mag man ihm vorwerfen. Aber es ist auf jeden Fall höchst bemerkenswert, wenn ein amerikanischer Thrillerautor fast 700 Seiten ohne dümmliche und unmotivierte Sexszenen auskommt. Der ehemalige Journalist und frühere Firmenberater Pattison lebt, wie es im Verlagsprospekt heißt, "zurückgezogen in Pennsylvania". Es gibt kein Foto von ihm. (ALBUM, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 04./05.05. 2002)