Tony Blair wird zur Zeit von seinen Kritikern zerzaust.

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Jeremy Corbyn brauchte zwei Anläufe, dann erst sprach er Tony Blair korrekt an. "Verzeihen Sie, Herr Präsident, äh, Herr Präsi. . ., nicht doch, Herr Premierminister. . .". Schallendes Gelächter erfüllte das altehrwürdige Unterhaus. Der Labour-Abgeordnete Corbyn hatte sich zwar verhaspelt, aber den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Ein britischer Regierungschef, der sich aufführt wie ein Präsident - Blairs mitunter selbstherrlich wirkender Stil kommt bei den Parlamentariern Ihrer Majestät schlecht an. Und nicht nur bei denen. Der Karikaturist des Observer malt den Premier als Supermann, der in die Wolken entschwebt, höher und höher, immer weiter weg von der Realität. Glaubt man dem Haustratsch der Labour Party, dann rüsten die Hinterbänkler des Parlaments bereits zum Aufstand gegen die einstige Lichtfigur. Von den 413 Mandatsträgern der Regierungsfraktion ist angeblich jeder Fünfte derart sauer, dass er an einen Putsch denkt: Gordon Brown, der populäre Finanzminister aus Schottland, soll Tony Blair ablösen. Verblasster Triumph Bestätigen will das freilich nur einer, besagter Jeremy Corbyn, der Mann mit dem präsidialen Versprecher. Auch wenn sich das Gerücht als aufgeblasen erweist, an einem besteht kein Zweifel: Es gärt in den Labour-Reihen. Knapp ein Jahr nach dem zweiten Wahlsieg in Folge stecken die Sozialdemokraten in einer kritischen Phase. Im House of Commons, dem Unterhaus, geben sie zwar klar den Ton an, doch der Glanz des Wahltriumphs ist verblasst. Das nächste Votum (frühestens im Jahr 2005, spätestens 2006) liegt in zu weiter Ferne, als dass es die Partei zum Schulterschluss zwingen könnte. So muss sich Blair immer öfter den Vorwurf gefallen lassen, er höre nicht hin, wenn die Basis rede - viel zu abgekapselt sitze er in seinem "Raumschiff Downing Street". Seit er 1994 als Seiteneinsteiger den Parteivorsitz übernahm, verlässt er sich auf ein Küchenkabinett engster Berater - darunter so schillernde Figuren wie Alastair Campbell, einst Boulevardjournalist, heute Pressechef, ein Mann, der Minister und Hinterbänkler gleichermaßen mit täglichen Sprachregelungen an der kurzen Leine hält. Mit Vorschriften, was man gerade wie sagen darf und was nicht. Doch so geschmiert wie fünf, sechs Jahre lang funktioniert das Blairsche Räderwerk längst nicht mehr. Als Weltstaatsmann macht der 48-Jährige zwar nach wie vor eine gute Figur. Als er jetzt 1700 Elitesoldaten zum Kampfeinsatz nach Afghanistan befahl, stimmte ihm auch die Opposition - Konservative und Liberaldemokraten - fast ohne Abstriche zu. Viele Versprechen Auf Widerstand aber stößt der Innenpolitiker Blair. Im vergangenen Wahlkampf versprach er Milliardeninvestitionen für marode Krankenhäuser und verschlissene Bahngleise, Konkretes merkt der Normalverbraucher indes nicht. Beispiel Londoner U-Bahn, einer der chronischen Krisenfälle: Seit Jahren wird über das Projekt einer Private-Public-Partnership diskutiert, um sowohl öffentliches als auch privates Geld in die altersschwache "Tube" zu pumpen. Doch im Alltag haben Millionen von Berufspendlern noch immer unter kaputten Signalen, überfüllten Waggons und blockierten Rolltreppen zu leiden. "Prophet Tone" Die Gewerkschaften, traditionell die stärkste Stütze der Sozialdemokraten, gehen immer stärker auf Distanz zu "Prophet Tone", wie Spötter den Premierminister wegen seines manchmal ziemlich pastorenhaften Tons nennen. Weil sich der New-Labour-Mann in der Wirtschaftspolitik dem italienischen Rechten, Premierminister und Medientycoon Silvio Berlusconi annähert, steigt John Monks, Chef des Dachverbands Trades Union Congress (TUC), auf die Barrikaden. Wie Blair im Duett mit Berlusconi das soziale Europa durch kalten Kapitalismus à la Amerika ersetzen wolle, wetterte TUC-Mann Monks dieser Tage, das sei einfach "saudumm". (DER STANDARD Print-Ausgabe, 28.3.2002)