Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Reuters/Bogdan Cristel
Pazifisten lehnen es natürlich vehement ab: das alte Wort vom Krieg als dem Vater aller Dinge. Was die Entwicklung der Nato betrifft, so scheint es allerdings gültiger denn je, und vielleicht sogar im Sinn aller Friedensbewegten.

Die Nato wurde aus der Logik des Kalten Krieges heraus als westliches Verteidigungsbündnis gegründet. Mit dem Fall der Berliner Mauer begann die politische Identitätskrise. Aber es sind zwei militärische Ereignisse, welche die Allianz in ihrem Selbstverständnis nachhaltig erschüttert und ihre unaufhaltsame Aufweichung ausgelöst haben.

Vor drei Jahren begann mit den Luftangriffen gegen Jugoslawien die erste - und bisher einzige - kriegerische Aktion der Nato. Sie war humanitär motiviert: Verhinderung eines Völkermords an den Kosovo-Albanern. Aber dass die Operation "out of area", also außerhalb des Bündnisgebiets, stattfand und noch dazu über kein UNO-Mandat verfügte, stürzte die Allianz in eine Zerreißprobe.

Vor rund drei Monaten begann mit dem amerikanischen Antiterrorkrieg in Afghanistan die nächste Phase der Nato-Metamorphose. Eigentlich wurde sie schon mit dem 11. September eingeleitet, nach dem die Allianz erstmals in ihrer Geschichte den Bünd- nisfall ausrief.

Was dies in der Praxis bedeutete, wurde bald klar. Hoffnungen der europäischen Partner, Art und Intensität des Krieges gegen den Terrorismus beeinflussen zu können, erwiesen sich als völlig unrealistisch. Die USA wollten und wollen sich ihre Handlungsfreiheit nicht durch Rücksichtnahme auf Verbündete einschränken lassen. Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz sagte es vor einigen Wochen auf der Münchner Sicherheitskonferenz ganz ungeschminkt: "Die Aufgabe entscheidet über die Koalition, nicht die Koalition über die Aufgabe."

Aus der Sicht Washingtons soll die Nato künftig also lediglich den Rahmen für Ad-hoc-Bündnisse bilden. Eine Erweiterung um möglichst viele Länder, welche die Aufnahmekriterien zumindest leidlich erfüllen, ist die logische Folge. Daher favorisiert Washington einen "big bang" beim Prager Gipfel im November: Einladung an bis zu sieben mittel-, süd- und nordosteuropäische Länder.

Dass Russland seinen Widerstand gegen eine Aufnahme der drei baltischen Republiken praktisch aufgegeben hat, liegt an Präsident Wladimir Putins klarem (innenpolitisch riskantem) Westkurs im Gefolge des 11. September. Der Kremlchef erwartet sich dafür eine weit stärkere Einbindung seines Landes in die Entscheidungsstrukturen der Nato. Beim Außenministertreffen Mitte Mai in Réykjavik soll zumindest eine Vorentscheidung über Russlands neues Verhältnis zur Allianz fallen.

Wie immer dieses aussieht und wie viele Länder bei der nächsten Erweiterungsrunde letztlich dabei sind: Der militärische Faktor wird zugunsten des politischen schwächer. Die Vision eines kollektiven Sicherheitssystems, einer effizienteren OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) nimmt Gestalt an.

Voraussetzung dafür ist allerdings eine weitaus stärkere Rolle der Europäer als bisher. Dass die Notwendigkeit erkannt worden ist, zeigen Beschlüsse der letzten Tage und Wochen: Die Produktion eines eigenen Militärtransporters (Military Airbus), das größte gemeinsame Rüstungsprojekt in der Geschichte Europas, ist auf den Weg gebracht; für das Satellitennavigationssystem "Galileo", das Europa unabhängig vom amerikanischen GPS (Global Positioning System) machen soll, hat Deutschland die erste Finanzierungstranche freigegeben; und im September soll die Nato-Truppe in Mazedonien von der ersten Militärmission der EU abgelöst werden.

Auch wenn es paradox erscheint: Gerade weil das europäische Verständnis von umfassender Sicherheit sich von jenem der Supermacht USA in manchem unterscheidet, braucht Europa auch eine effiziente militärische Komponente. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 25. 3. 2002)