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Chris Pichler (r.) in der Rolle der Recha und Thomas Stolzeti als Nathan während der Probe von Gotthold Ephraim Lessings Stück 'Nathan der Weise' das am 24. März 2002 am Wiener Volkstheater Premiere hat.

Roland Schlager /APA

Ronald Pohl

Es bedurfte des qualmenden Einsturzes zweier Türme im Herzen einer sich weltoffen dünkenden Metropole, um die Theater auf die Wahrnehmung ihrer nobelsten Erziehungsaufgaben zu verpflichten. So hat die Katastrophe vom 11. Septem-ber in den Spielplänen einiger Großbühnen ihren erwartbaren Nachhall gefunden. Um der überwiegend sprachlosen Betroffenheit wenigstens ein pädagogisches Bild entgegenzuhalten, zerren die Theater ihr liebstes Toleranzstück mit ehrfürchtiger Beklommenheit aus dem Fundus.

Nichts wider die hohe Gesinnung der Wiener Volkstheater-Macher, deren Bemühungen um das Stück lautersten Absichten entspringen - die Premiere findet am Sonntag statt. Doch Lessings "dramatisches Gedicht" Nathan der Weise muss jetzt die gelebte Eintracht der Weltreligionen im Weg der utopischen Ersatzleistung vormachen.

Während nämlich anderswo der "Clash of cultures" angeregt diskutiert wird und EU-Staatschefs derweilen über die Kulturfähigkeit von "Kameltreibern" abschätzig rätseln, kann sich das Theater auf sein Einspruchsrecht berufen: Sage keiner, wir hätten es nicht besser gewusst! Der entgeisterte Blick auf die Brände im Nahen Osten mag die "Aktualität" des Stückes zusätzlich belegen.

Mit Nathan, dem hochmögenden jüdischen Kaufmann im zwischenzeitlich befriedeten Koexistenzlager Jerusalem, der dem Sultan Saladin die berühmte Parabel von der ununterscheidbaren Wertigkeit der (damaligen) drei Weltreligionen erzählt, tritt der Deutschen liebster Entsühner auf den Plan. Seht nur, wie dieser Nathan zu vergeben versteht! Wie er sein bitteres Elend, das ihm von christlicher Hand angetan wurde, hinunterwürgt und die Toleranz beispielhaft vorlebt!
Nun wird man keinen verständigeren Religionskritiker vorfinden als Gotthold Ephraim Lessing, den aufgeklärten Pfarrerssohn. Nur taugen gerade Deutsch-lands größte Geister verhältnismäßig wenig, wenn es an die Analyse jenes unbedingten Anspruchs geht, den die monotheistischen Religionen an ihre Gefolgsleute zu richten pflegen. Der Karikaturist Haderer wird davon aktuell ein Lied zu singen wissen.
Lessing - und hierin berührt sich sein Denken mit Kant - stellt sich die Aufgabe, das zwischenmenschliche Zusammenleben möglichst "vernunftgegründet" zu regeln. Denn erst an der allgemeinen Gültigkeit vernünftigen Urteilens erweist sich ja auch die Haltbarkeit einer Moralität, die für Muslim, Jude und Christ in völlig analoger Weise zu gelten hätte - ungeachtet der verbürgten Eigenarten ihrer jeweiligen Offenbarungsgeschichte.

Das "moralische Gesetz", wird Kant sagen, tritt an die Stelle eines Gottesbegriffes, dessen ehemals fraglose Geltung sich in dem Maße verliert, wie die Aufklärung Begriffe wie den "absoluten Geist" (Hegel) oder die "Gott=Natur" (Goethe) ersatzweise aussinnt, um eine ethische Metaphysik zu beglaubigen. Man mag dergleichen, in Hinsicht auf "Gott" und was er den Menschen bedeutet, als ideengeschichtliches Nullsummenspiel erachten - an die Substanz der Offenbarung, gleich welcher, rührt das Abstrahieren aber doch empfindlich.
Man muss den mutmaßlichen Mördern von Al-Qua'ida daher kein philosophisches Mandat einräumen, um gleichwohl zu erkennen, dass sie erklärter- maßen gerade das ablehnen, was Lessing zur Ehre gereicht: Sie verachten den Diskurs der Aufklärung, weil er sich eben nicht primär um ihre Offenbarung und deren Ansprüche der Auserwähltheit schert. Dies zu ertragen heißt aber erst: Toleranz zu üben.

(DER STANDARD, Print, Sa./So., 23.03.2002)