Berlin - Kinder brauchen und suchen keinen Rausch. Sie meiden Rauschmittel, sie finden, dass Bier scheußlich schmeckt, Zigarettenrauch eklig riecht und der betrunkene Onkel richtig peinlich ist. Nur Straßenkinder, denen das Wesentliche fehlt: Geborgenheit, suchen ein Surrogat in Form von Nebel im Kopf und schnüffeln Klebstoff oder lutschen Halluzinogene. "Normal" aufwachsende, behütete Kinder machen mit sicherem Instinkt einen Bogen um alles, was mit Rausch und Sucht zu tun hat. Eine Nikotin- oder Alkoholabhängigkeit ihrer Eltern bereitet ihnen Sorgen.Trotzdem gibt zu denken, dass jede junge Generation "es" probieren will, und man fragt sich, was es sei, das diese verbreitete Lust auf Rauschmittel weckt. Schließlich hat der junge Mensch seine ersten zehn, zwölf oder vierzehn Jahre völlig frei von einem solchen Wunsch verbracht. Die Vermutung liegt nahe, dass das Körper- und Lebensgefühl nach Einsetzten der Pubertät eine (kindliche) Gleichgewichtslage verliert und vermisst, die durch den Rausch entweder zurückerinnert oder (kurzfristig) wiederhergestellt sein soll. Insofern hätte das Rauschverlangen eine nostalgische, rückwärtsgewandte Note. Vielleicht ist es auch andersrum: Der Rausch vertritt die sexuelle Ekstase, die, im Gegensatz zu einer Flasche Wein oder einem Joint, noch nicht verfügbar ist, aber heftig ersehnt und im Rausch teils simuliert, teils ersetzt wird. (...) Nur wenige Kulturen und Individuen kommen ohne den Rausch aus. Für Pubertierende erfüllt er eindeutig die Funktion eines Initiationsritus: Wer ihn gehabt hat, ist schon eine Spur erwachsen, er teilt mit den Großen die wichtige Grenzerfahrung des bewussten Kontrollverlusts. (...) Es ist deshalb naiv, den Rausch einfach nur zu feiern. Man muss wissen, dass die Kosten für seine Erlangung erheblich sein können und im Extremfall Menschenleben fordern. Kein Schutzprogramm für Kinder ist zu viel. Im Grunde ist eine umfassende Legalisierung der einzig richtige Weg. Aber diese Strategien sind für erwachsene Konsumenten gedacht; Kinder müssen anders und intensiver geschützt werden. (...) Auch eine Schule, die ihre Jugendlichen nicht nur mit dem per Curricula beschlossenem Wissensstoff abfüllt und sie ansonsten vor allem Bluff, Quatschmachen und Kiffen auf dem Klo lehrt, sondern mit ihnen etwas auf die Beine stellt, was die Welt in Erstaunen versetzt, rettet die Jugend vor der Droge. Denn Jugendliche wollen sich vor allem beweisen. Wenn sie nichts anderes finden, beweisen sie eben ihre Trinkfestigkeit oder Eignung für den Trip. (DER STANDARD, Printausgabe 14.03.2002)