Wien
Frankreich probt den Babyboom
Ein Rekordjahr jagt das nächste
Windelhersteller haben es gut
in Frankreich. Sie durften im
vergangenen Jahr 774.800
Säuglinge einkleiden. So viele
kleine Franzosen erblickten
nämlich 2001 das Licht der
Welt. Schon 2000 war ein Rekordjahr. "Eine derartige Häufung der Geburten hat es seit
zwanzig Jahren nicht mehr
gegeben", meint der "Rat für
Wirtschaftsanalysen" (Conseil
d'Analyse Economique, CAE)
in einer soeben erschienenen
Studie. Paare holen Kinderwunsch nach
Die Statistiker rechneten aus, dass eine Französin
heute im Schnitt 1,9 Kinder
hat. Vor fünf Jahren lag der
Wert noch bei 1,73. Ein
Hauptgrund ist nach CAE-Ansicht der seit fünf Jahren registrierte Rückgang der Arbeitslosigkeit: Viele Paare holen ihren Kinderwunsch nun nach.
Zumal die vor zwei Jahren
eingeführte 35-Stunden-Woche den Erwerbstätigen mehr
Freizeit gibt. Weniger wichtig
scheint nach Expertenansicht
das Ausmaß der Familienhilfe
zu sein.
Berufstätige Mütter
Ausschlaggebender ist offenbar die Einstellung der Gesellschaft. Alleinerziehende
Mutter zu sein, ist kein Problem. Im vergangenen Jahr
stammte fast jedes zweite
Neugeborene von einer unverheirateten Frau. Zudem ist
es in Frankreich durchaus anerkannt, Mutter und gleichzeitig berufstätig zu sein. Von
den Französinnen, die zwei
Kinder haben, arbeiten zum
Beispiel über 70 Prozent - das sind fast so viele wie bei den
kinderlosen Frauen.
Entsprechend zahlreich
sind in Frankreich Kinderkrippen, Vor- und Ganztagsschulen. In die "Ecole maternelle", den Kindergarten, geht
man normalerweise mit drei
Jahren, doch sehr viele Eltern
schicken heute bereits ihr
zweijähriges Kind dorthin.
Die elegante Pariserin, die
dank 35-Stunden-Woche
schon um 16 Uhr ihr Büro
verlässt, im Kleinwagen zur
Krippe rast und dort, meist
noch ein Handy am Ohr, ihr
Kind in die Arme schließt, gehört längst zum Stadtbild.
"C´est normal"
Immer mehr Mütter können
sich zudem Ganztages-Babysitterinnen leisten. "C'est
normal", finden Franzosen.
Was die Geburtenfreudigkeit
anbelangt, kommt der CAE sogar zum erstaunlichen
Schluss: Je mehr Frauen berufstätig sind, desto mehr
Kinder kommen zur Welt.
Soziologen führen als weiteren Grund für den Babyboom einen Mentalitätswechsel an: Nach der "Frauenbefreiung" der 68er-Generation
und dem Geldscheffeln der
goldenen Achtziger seien die
heute Zwanzigjährigen in
Frankreich wieder besonders
empfänglich für familiäre
Werte. Innendekorateure und
Bastelläden sind gefragt. Und
schließlich erhöhte, so meinen die Spezialisten, auch der
Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich Lebensoptimismus und somit
Zeugungsfreudigkeit: Ein wenig Chauvinismus ist für
Franzosen so gesund wie Kindermachen. N'est-ce pas? (DER STANDARD Print-Ausgabe, 13.3.2002)