Sicherheitspolitisch hatte die 1989 untergegangene Welt des Kalten Krieges gegenüber der heutigen einen klaren Vorteil: den der Einfachheit. Zwei monolithische Blöcke - Ost und West - standen als Hauptakteure auf der Weltbühne und hielten einander in der gemeinsamen Überzeugung, dass der Supergau der wechselseitigen atomaren Vernichtung um jeden Preis zu verhindern sei, in Schach. Von diesen vergleichsweise gemütlichen Voraussetzungen sind wir schon lange entfernt. In den Albtraumszenarien nach 1989 tummeln sich nicht nur Russland und die USA, sondern eine Vielzahl von Akteuren auf substaatlicher Ebene, die bereits deutlich gezeigt haben, was sie auch ohne Massenvernichtungswaffen auf dem Gebiet brutaler Destruktion zuwege bringen. Der 11. September war kein Anfang, sondern das - hoffentlich nicht nur vorläufige - Ende einer Entwicklung, welche schon früher in Gang gekommen ist. Nur ein naives Gemüt hätte annehmen können, dass diese veränderten Rahmenbedingungen nicht auch neue Überlegungen über die Rolle der ultimativen Waffe - der Atombombe - auslösen würden. Im öffentlichen Diskurs in den USA spielten einschlägige Überlegungen zwar keine nennenswerte Rolle, und die Empfehlung, Afghanistan gleich samt und sonders zu "nuken", blieb ein paar verwirrten New Yorker Graffiti-Schreibern vorbehalten. Wie Los Angeles Times und New York Times am Wochenende berichteten, tut sich hinter den Kulissen allerdings einiges. Das Pentagon hat den Kongress davon in Kenntnis gesetzt, dass die Regierung Bush nicht nur sieben Staaten als potenzielle Angriffsziele im Visier hat, sondern dass man auch die Entwicklung von Miniaturatombomben vorantreiben wolle. Unklar ist, ob diese Enthüllungen aus Regierungskreisen selbst lanciert wurden, um der "Achse des Bösen" auf Umwegen, aber unmissverständlich einen Wink zu geben, was ihr im Extremfall blühen würde. Dagegen spricht, dass Vizepräsident Dick Cheney, der am Sonntag eine Reise durch eine Reihe arabischer Länder antrat, mit dieser Enthüllung ein unangenehmes diplomatisches Mitbringsel in seinem Reisegepäck hat, das seinen Bemühungen, eine Koalition gegen den Irak zu schmieden, Schaden zufügen könnte. Die in dem Dokument geäußerten Überlegungen zeigen freilich, dass die USA massiv an etwas arbeiten, was man eine Auffächerung möglicher sicherheitspolitischer Präventiv- und Reaktionsmaßnahmen nennen könnte. Dem komplexeren Bedrohungsbild des Terrors soll eine komplexere Skala möglicher militärischer Antworten entsprechen, die auch den Einsatz von Atomwaffen nicht ausschließt. Freilich ist nicht recht einzusehen, welchen erwünschten Effekt miniaturisierte Atombomben über die bereits existierenden A-Bomben traditionell unseligen Zuschnitts haben sollten. Einzelne Terrorgruppen werden sich davon als Adressaten kaum mehr beeindrucken lassen. Sie als bunkerbrechende Waffe gegen unterirdische Chemie- oder Biowaffenlager einzusetzen, würde eine sehr exakte Kenntnis von deren Lage und Beschaffenheit voraussetzen, und jeder entschlossene Schurkenstaat würde wohl leicht Mittel und Wege finden, um seine Gegner hier in die Irre zu führen. Die höchst ungewisse militärische Sinnhaftigkeit solcher Bombeneinsätze müsste aber mit einem viel größeren Übel erkauft werden: Sie würden nicht der Abschreckung dienen, sondern die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen weltweit massiv senken. Schon als apokalyptische Drohung ist die Atombombe schrecklich genug - als tatsächlich eingesetztes Kampfmittel könnte sie zu einer globalen existenziellen Bedrohung werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung Bush ihren Antiterrorkampf nicht nur an solchen Fantasien militärtechnischer Machbarkeit ausrichtet und besser geeignete Wege findet, in einer bedrohlichen Welt mehr Sicherheit zu schaffen. (DER STANDARD, Print, 11.3.2002)