Mensch
Individuelle Therapien könnten Wirklichkeit werden
So wird Multiple Sklerose fassbar
Wien - Eine von Patient zu Patient oft sehr unterschiedlich
verlaufende schwere Krankheit wird rational fassbarer: Der Leiter des
Wiener Hirnforschungsinstitutes, Univ.-Prof. Dr. Hans Lassmann, und
sein Team sind dabei, völlig neue Kategorien der Multiplen Sklerose
(MS) auf der Basis des beim einzelnen Patienten ablaufenden
Krankheitsgeschehens zu entwickeln. "Ich glaube, dass man das in
Zukunft beachten wird, weil es die Möglichkeit für individueller
Therapien schaffen könnte", erklärte Lassmann Samstag Vormittag bei
einem internationalen Fachsymposium in Wien. Bei der vom deutschen Pharmakonzern Schering organisierten
Veranstaltung in der Wiener Hofburg hatten sich hunderte Spezialisten
versammelt. Das Thema: "Neue Aspekte in der Behandlung der Multiplen
Sklerose mit 'Betaferon'." In Österreich leiden rund 8.000 Menschen
an MS. Grob gesprochen handelt es sich um eine chronisch entzündliche
Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn, Rückenmark), die oft
zunächst schubförmig verläuft, bis sie schließlich in eine sich
ständig verschlechternde Form (sekundär progredient) übergeht.
Entzündungszellen schädigen Nervenleitungen
Wahrscheinlich durch eine fehlgesteuerte Immunreaktion wandern
Entzündungszellen ins Gehirn ein und schädigen die Nervenleitungen
sowie andere Komponenten. Das Problem: Die dabei auftretenden
Lähmungserscheinungen summieren sich mit der Zeit. Rund zwölf Jahre
vergehen im Durchschnitt, bis die Betroffenen auf den Rollstuhl
angewiesen sind.
Eine - mittlerweile bereits oft recht früh eingeleitete - Therapie
mit Beta-Interferon kann die Häufigkeit der akuten Krankheitsschübe
der MS pro Jahr um jeweils 24 bis 30 Prozent reduzieren. Dadurch
lassen sich auch die sich kumulierenden Lähmungserscheinungen
bremsen. Neben Beta-Interferon - mit dem Schering-Produkt gibt es
bereits rund eineinhalb Jahrzehnte Erfahrungen - existiert mit der
Substanz Glatirameracetat ("Cop axone") seit kurzer Zeit auch in
Österreich ein weiteres MS-Medikament, das auf anderer Basis wirkt,
aber eine ähnlich positive Wirkung wie die Beta-Interferon besitzt.
Strategie individuell unterschiedlich griffig
Doch noch weiß niemand, welche Patienten von welcher
Behandlungsstrategie am meisten profitieren könnten. Deshalb wäre
eine neue Einteilung der Multiplen Sklerose, die auf der Basis der
offenbar von Patient zu Patient zum Teil unterschiedlichen
Krankheitsmechanismen von entscheidender Bedeutung. Erst bei
Vorliegen einer solchen rationalen Kategorisierung könnte die
Behandlung individualisiert werden.
Lassmann und sein Team haben dabei international anerkannte
Führungsarbeit geleistet. Der Hirnforscher am Samstag: "Die Basis der
Multiplen Sklerose ist bei den Patienten eine von den so genannten
zytotoxischen T-Zellen und den Makrophagen ("Fresszellen", Anm.)
getriebene Entzündung. Deshalb zielen ja derzeit die meisten
Behandlungskonzepte auf eine Modulierung bzw. Dämpfung der Entzündung
ab."
Doch hinzu kommt die für die MS typische Zerstörung der
"Isolierschicht" der Nervenleitungen, die durch Antikörper vermittelt
wird. Lassmann: "Das läuft sehr heterogen ab. Hier wird man eventuell
Subtypen in der Therapie speziell behandeln können." (APA)