Ein Mann besteigt kurz vor den Semesterferien manisch eine steile Bergwand. Seine Ehe ist perdu, damit auch die Kletterpartnerin, der Sohn sowieso, und der Mann verliert gerade auch noch den Kopf über all den Reminiszenzen. Kaputtheiten wie diese wären noch nichts Besonderes, ebenso, dass sich der Protagonist manchmal fragt, "ob in den allerletzten Augenblicken sein Leben tatsächlich vor ihm ablaufen würde wie ein innerer Film." Schon ungewöhnlicher als die Tatsache, dass dieser Psychoalpinist auch unentschuldigt dem Unterricht fernbleibt - Lehrerschicksal - ist, dass er dazu gleich ein Präzisionsgewehr mitnimmt. Der Abgrund zieht an, oder, wie es eine andere Lehrerfigur ausdrückt: "Abyssus abyssum invocat." Es ist der Strudel des ersehnten Amoklaufs und der Paranoia gegen die lieben Kollegen, der nun seine Sogwirkung entfaltet - nur zieht er hier immer weiter hinauf.Bereits die Widmung von Über Raben, dem neuen Roman von Paulus Hochgatterer (geb. 1961), ist programmatisch: "Den bösen Kindern und schlechten Lehrern". In einer narrativen Parallelaktion hat der Autor nämlich seiner manischen Er-Figur ein Ich gegenübergestellt: Eine seltsame, in Englisch-Vokabeln verliebte Teenagerin, noch keine 14, die mit ihrem Austria-Kater Ratajczyk und der behinderten Annette in reichlich ungeklärten Verhältnissen lebt. Zwischen "Er" und "Ich", Gebirge und Schule laufen fast unsichtbare Nervenbahnen einer alternierenden Geschichte, mit durchaus halluzinatorischen Zügen. So bohrt sich der Erzählfokus einerseits wie ein Kletterhaken in den Extrembergsteiger und seine Wehwechen, während er andererseits im Faulschlamm des Schulischen versinkt, quasi nöstlingerhaft mitunter - freilich ohne allzuviel Humor. Ein Hochgatterer-Profi würde hier die Weiterführung von Motivbögen aus früheren Romanen (Wildwasser, 1997; Caretta Caretta, 1999) erkennen: die Kopfmechanik der vom Leben angeschlagenen jugendlichen Helden, die manchmal seltsam erwachsen wirken, der sportliche und gebirgige Extremismus. Nicht umsonst gilt der promovierte Arzt und Psychotherapeut ja als einer der wichtigsten Ersatzspieler beim österreichischen 1. FC Prosa, mit verdienter Literaturförderung versehen und vom heimischen Kritikeradel aufgemerkt. Sein Raben-Roman indes entlässt LeserIn einigermaßen ratlos mit der Frage, warum und was hier eigentlich erzählt worden ist. Einerseits scheint es, als würden die Mysterien nie restlos gelöst werden können. Der titelgebende Vogel zum Beispiel, der gegen Ende des alpinen Amoklaufs ohne Zielpersonen erscheint: "Der Rabe wandte den Kopf und blickte ihn an. Die struppigen Federn am Ansatz seines Schnabels waren von Reif überzogen. Oben auf dem Rand des Nestes lag eine tote Maus." In solchen Situationen ist man geneigt, dem Autor Kredit zu schenken, indem man sich etwa den Roman im Kopfkino verfilmt vorstellt von sagenwir: David Lynch. "Physiologische Kopulationsbereitschaft nach dem Erwachen", um es in den gelungeneren Worten dieses Textes auszudrücken, "Klettern, Körper, Kopulieren." In diesem Schulmädchenreport après la lettre wird aber nicht kopuliert, sondern maximal herumgesponnen, und das erzählerische Garn ist verfilzt. Genauso aber gibt es Elemente, die "superstören", um es in der Sprache der jüngeren Romaninsassen zu sagen: Der Schulalltag der Protagonistin ist nämlich einfach so banal, dass nicht nur der in die Bergeinsamkeit flüchtenden Lehrkraft die Gelenke wehtun. Maliziös - und marketingtheoretisch - angedacht, ließe sich das Buch als zielgruppenspezifische Literatur abtun: für Heranwachsende und/oder Bergsteiger/innen, gegebenenfalls noch (bedingt) für Lehrpersonal. "Er hält Clemens, seinem Sitznachbarn, das Brot hin. Clemens schüttelt den Kopf." Aber vielleicht tut er ja dem Jausenbrot Unrecht. (Von Clemens Ruthner - DER STANDARD; Album, 9.03.2002)