Geschlechterpolitik
"Utah ist eine Theokratie"
Helen Weeks: "Ziel war, das Königreich Gottes zu erschaffen, das alle anderen Nationen ablösen würde - Wie im Islam" - Teil V
Wir stehen wieder am Nullpunkt, vor dem Mormonen-Tabernakel auf dem
Tempelplatz. Hier warten wir auf eine Frau, die für diese Begegnung 70km
aus der erzkonservativen Stadt Orem hierher gefahren ist. Der Treffpunkt
ist bewusst gewählt: Helen Weeks war früher Mitglied des weltberühmten
Chors, der jetzt hinter uns auf der Bühne probt. Helen ist eine gepflegte, charmante ältere Dame. Hinter ihrem Lächeln
wirkt sie jedoch nervös, während des Interviews blickt sie ständig um sich. "Als
ich im Chor war, sagte man uns, jeder Quadratzentimeter im Tempelbezirk
werde Tag und Nacht überwacht."
Mehrmals hat sie mich gefragt, für welche
Zeitschrift ich nun genau schreibe - ob es wirklich keine subversive
Publikation sei? 1989 machte Helen Weeks in einem Dokumentarfilm Aussagen
über die Politik in Utah und über das Patriarchat, welche ihr an ihrem
Wohnort übel genommen wurden. "Ich wurde von Leuten geschnitten, mit denen
ich 50 Jahre lang befreundet war."
Politisch aktiv gegen Willen der Familie
Helen Weeks ist eine Bilderbuchmormonin: Als Mutter von 9 Kindern hat sie
34 Enkel und 19 Urenkel. 17 Jahre lang war sie Sängerin und Soloistin im
Tabernakel-Chor. Als sie 1980 bei der Vereidigung von Ronald Reagan
auftrat, wurde sie hinter der Bühne von einer Frau auf das Thema
Patriarchat angesprochen. Neugierig geworden begann Helen, feministische
Literatur zu lesen. Gegen den Willen ihres Mannes und ihrer Familie wurde
sie politisch aktiv. Dreimal trat sie als Kandidatin der demokratischen
Partei für das Repräsentantenhaus in Utah an, im gleichnamigen Bezirk, der
als der konservativste der ganzen USA gilt. "Selbst ein weiblicher Gott
('even God herself') würde es in Utah County nicht schaffen, als
Demokratin gewählt zu werden". Vor einigen Monaten kehrte sie mit ihrem Mann aus
China zurück, wo sie ein Jahr lang Englisch unterrichtete.
Fast wie die Taliban
Wir erwähnen unsere Begegnung mit Anne Wilde. "Polygamie in einer
zivilisierten Gesellschaft ist ein Greuel", kommentiert Helen. "Und doch
ist es ein Glaubensgrundsatz in der mormonischen Kirche und einer, der auf
gewisse Männer sehr anziehend wirkt: das Versprechen, dass sie einst zu
Göttern werden, eigene Welten kreieren können und viele Frauen und Kinder
haben werden. Fast wie die Taliban: Schnurgerade zu Allah und 72
Jungfrauen!"
Grundlage für Inzest
Der BesucherInnenstrom ist an diesem Spätherbstmorgen ein Rinnsal. Die jungen
Missionarinnen in ihren knöchellangen, schwarzen Röcken finden keine
AnsprechpartnerInnen und kommen immer wieder zu uns zurück. Wir winken ab und
suchen Zuflucht hinter einem Denkmal.
"Ein Psychologe an der Brigham Young Universität hat einmal gesagt: Eine
Gesellschaft, die den Mann zur Autoritätsfigur macht, die Frau als
untergeordnet definiert und die Tochter als gehorsam, legt damit
automatisch die Grundlage für Inzest", sagt Helen. "Eines von drei Mädchen
in Utah wird von einem Familienmitglied missbraucht, und einer von sieben
Knaben. Ich arbeitete jahrelang für den Bezirksanwalt, wo ich mich mit
diesen Statistiken auseinandersetzen musste."
Sie weist auf das Denkmal vor uns, das der Frauenhilfsvereinigung gewidmet
ist. "Als Präsident Joseph Fielding Smith 1970 an die Macht kam, erklärte
er: Wir werden mit dieser 'Unterrockregierung' (Pettycoat-Power)
aufräumen!" Helens Lächeln wird bitter. "Sie zerstörten unsere
Vereinigung, nahmen uns unsere Stimme - unsere eigene Zeitschrift - nahmen unser
Gebäude und unser Budget, das aus den Spenden der Frauen zusammengetragen worden
war."
Utah ist eine Theokratie
Die Herbstsonne verzieht sich hinter Wolken, und wir kehren ins warme
Tabernakel zurück. Die Akustik im Raum ist perfekt. Helens Stimme senkt
sich zu einem Flüstern. "Ironischerweise garantierte die Verfassung von
Utah den Frauen bereits 1896 die Gleichberechtigung, einschliesslich
'religiöser Rechte und Privilegien'. Die Frauen von Utah sollten die
gängige Praxis herausfordern, in welcher sie keinen Zugang zu Macht und
Privilegien in der Religion haben! Utah ist eine Theokratie. Von Anfang an
war es das Ziel, das Königreich Gottes zu erschaffen, das alle anderen
Nationen ablösen würde. Wie im Islam. Und es ist noch immer ihr Ziel.
Schau doch, wie sie das Missionarsprogramm antreiben - es gibt jetzt etwa 60'000
Missionare in aller Welt."
Auf der Bühne steht noch immer der Chor. Der Dirigent gibt ein Zeichen,
Gesang erschallt, ich kriege Gänsehaut; so pur ist der Ton hier im
Tabernakel, so rein die Harmonie der Stimmen. Schweigend hören wir zu.
Helen blickt stolz auf die Sängerinnen und lächelt versonnen. "Ich stelle
mir eine Welt vor, in welcher Frauen freie Hand haben, das Beste zu
erschaffen, das sie können - es wäre eine wundervolle Welt, glaubst du
nicht auch?"
Keine Machoallüren
Gegen Abend kehren wir in den Vorort South Jordan zum Haus von Dianna und
ihrer Familie zurück. Die drei Söhne decken den Tisch für das
traditionelle
Sonntagsmahl. Diannas Mann zieht die überbackene Lasagne aus dem Ofen.
Keine Machoallüren hier. Die Jungen scherzen und wirken erleichtert, ihren
dreistündigen Gottesdienst hinter sich zu haben. Vor dem Mahl spricht
Dianna ein Gebet und lässt sich dabei sogar von Mark fotografieren, obwohl
die Kirche das eigentlich nicht erlaubte. Mormonen-Frauen sind fabelhaft.
Sie lassen sich nicht in ein Schema zwingen. Nicht von Brigham Young. Und
nicht von mir. (Ende)