Wien - Jedes fünfte Kind in Österreich wird laut Beratungsstellen Opfer sexueller Gewalt - jährlich werden aber maximal 2000 Anzeigen wegen "sexuellen Missbrauchs von Unmündigen" registriert. Die Zahl der Verurteilungen liegt bei 300. Bei keinem anderen Verbrechen klaffen Dunkelziffer und offizielle Statistik so weit auseinander. Und das, obwohl Einrichtungen wie das Kinderschutzzentrum "die Möwe" eine steigende Anzeigenbereitschaft beobachten. Die Täter kommen in nahezu 80 Prozent der Fälle aus dem Familienkreis. Bis ein Opfer den Mut fasst oder psychisch in der Lage ist, sich gegen Vater oder Onkel zu wehren, können Jahre vergehen. Im Fall einer heute knapp 16-Jährigen vergingen sechs Jahre, bis sie vor wenigen Tagen gegen ihren Vater, einen Postenkommandanten der Gendarmerie aus dem Bezirk Mödling, aussagte - Der Standard berichtete. Dem Beamten und einem Kollegen wird unter anderem vorgeworfen, das Mädchen vergewaltigt zu haben. Beide Gendarmen befinden sich in U-Haft und weisen die Vorwürfe zurück. Besonders schwerwiegend Der Fall wird vom niederösterreichischen Kripo-Chef Franz Polzer als "besonders schwerwiegend" eingestuft. Die mutmaßlichen Misshandlungen waren längst aktenkundig. Das Kind musste seit seinem zehnten Lebensjahr mehrmals im Krankenhaus behandelt werden. Doch weder Ärzten noch der Gendarmerie gelang es, stichhaltige Beweise gegen die mutmaßlichen Täter zu erlangen. Erst nach einem Suizidversuch vertraute sich das Mädchen einem Psychiater an. Solche Leidenswege von Opfern sind dem Kinderpsychiater Max Friedrich nichts Neues. Denn auf Opferrechte werde in Österreich traditionell einfach vergessen. Dabei würden die Jüngsten oft gleich dreifach getroffen: erst das Verbrechen, dann eine nicht kindgerechte Verhandlung bei Gericht und häufig ein Freispruch des Täters. "Betteln um Hilfe" Natürlich sei es "unbefriedigend, wenn in einem Sozial-und Rechtsstaat wie Österreich Verbrechensopfer, insbesondere geschändete Kinder, betteln gehen müssen, um Hilfe zu bekommen", erklärt Gerald Waitz, Sprecher des FP-Justizministers. Dieter Böhmdorfer lasse derzeit Lücken in der Versorgung von Gewaltopfern prüfen. Danach soll die finanzielle Unterstützung für Opfer neu geregelt werden. Förderungen, die von verschiedenen Ministerien derzeit an eine Vielzahl privater Organisationen fließen, sollen künftig unter einem Dach koordiniert werden. Im Jahr 2000 habe Böhmdorfer 218.000 Euro (drei Millionen Schilling) für einen Opferfonds bereitgestellt, heuer seien es bereits 730.000 Euro. Opfer erhielten daraus Mittel für Rechtshilfe und Psychotherapie. "80 Prozent aller Jugendlichen, die wir wegen Gewaltdelikten betreuen, sind selbst Opfer von Gewalt geworden", stellt Margitta Essenther, Leiterin der Wiener Jugendgerichtshilfe, eine Opfer-Täter-Relation her. Interessant sei, dass Art und Qualität der erfahrenen und der ausgeübten Gewalt meist ident seien: "Liegen sexuelle Gewaltdelikte vor, kann man davon ausgehen, dass die Jugendlichen selbst sexuell misshandelt worden sind. Und bei Körperverletzungen sind die Jugendlichen oft selber von den Eltern geschlagen worden." Für die Täter wichtig: Gewalt und Macht Bei sexuellen Übergriffen ist laut Rotraut A. Perner immer eines für die Täter wichtig: Gewalt und Macht. Die einen würden sich an einem hilflosen Kind "begeilen", die anderen eher schweigen. Dass Fälle sexuell motivierter Gewalt gerade bei Polizisten, Lehrern, Betreuern oder Priestern - also gesellschaftlich angesehenen Gruppen - häufig vorkommen, überrascht die Gewaltforscherin nicht: "Viele wählen diese Berufe aus ihrer Biografie heraus." Juristen oder Polizisten würden etwa "Gerechtigkeitsberufe" ergreifen, weil sie selber als Kind ungerecht behandelt worden seien. Inhärent sei diesen Berufen "ein unbewusster Sog zur Autorität." Damit sei oft Dominanzstreben verbunden. Jene, die sich ihrer Gewaltfantasien bewusst seien, könnten sie kontrollieren. Zu Übergriffen komme es bei jenen, die unbewusst handeln. (aw, fei, simo, Der Standard, Printausgabe, 26.02.02)