Vermutlich ist X. nur einsam. Vom Leben und den Menschen frustriert. Verlassen, übriggeblieben und einfach vergessen. Vermutlich läutet sein Telephon nie, im Briefkasten liegen nur Werbeprospekte und nicht einmal Spam-Mail landet in der Mailbox. Vermutlich ist der einzige Kontakt zu echten Menschen der genervte Blick jener Leute, denen er in der U-Bahn den Sitz wegnimmt. Und vermutlich ist er harmlos. Tut keiner Seele was. Hoffentlich.Trotzdem nervt mich X. Unendlich. Und seit er vorletzte Woche die Hüllen seiner Videokassetten im Fenster stehen lassen hat, bin ich knapp dran, irgendwann etwas zu sagen. Obwohl ich seit zwei Jahren so tue, als würde ich nichts merken. Und davor ein paar Jahre tatsächlich nichts gemerkt habe. Weil X sich nicht aufdrängt. Er ist wie ein Pickel: Solange man ihn nicht bemerkt hat, stört er nicht. Aber danach. Danke. X. steht immer schräg hinter dem Vorhang. Das Fenster ist meist einen Spalt breit offen. X. ist nackt. Immer. Er ist um die 50. Fehlende Körpergröße kompensiert er mit schwammiger Korpulenz. Manchmal, wenn er überhaupt niemanden in der Gasse sieht, beugt er sich auch ein wenig aus dem Fenster. Die rechte Hand immer in Bewegung, knapp unter Fensterbretthöhe. Nicht, dass ich allzu prüde wäre. Nicht, dass ich irgendwem verwehren möchte, seinem Hormonstau ein Ventil zu geben. "... der werfe den ersten Stein." Und so weiter. Der Unterschied: Ich wohne im vierten Stock. X. im Erdgeschoss. An der Ecke zweier mittelfrequentierter Gassen. An der ich mindestens zweimal am Tag vorbeikomme. (Fast hätte ich geschrieben "An der die Schüler von zwei Schulen und einem Wienwochen-Schülerwohnheim Tag für Tag vorbeigehen." Aber in der Früh habe ich X. noch nie am Fenster gesehen.) X. steht immer so, dass man ihn nur sieht, wenn man weiß, dass er da ist. Blöderweise sorgt er dafür, dass man zum Fenster schaut. Das mit dem Weihnachtsschmuck, (Oktober bis Februar) war mir wurscht. Das Red Ribbon (seit rund einem halben Jahr an der Scheibe) nehme ich ihm übel - ob ich zuerst wütend wurde und dann das Pickerl kam, oder umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr. Vorletzte Woche standen dann zwei oder drei Pornovideokassetten im Fenster. Mit der Rückseite - also der mit den vielen kleinen und eindeutig eindeutigen Bildern - nach außen. Ein Versehen. Ein Vergessen: So deutlich zu sein, ist nicht X. Art. Am Abend waren sie wieder weg. "Schau einfach nicht hin", meint B. Der geht auch jeden Tag vorbei. Und meint, ich solle halt nicht so spießig sein - er jedenfalls schaue nicht hin. Komischerweise wusste er trotzdem schon bei der ersten Andeutung ganz genau, von wem ich redete. Weil er auch kein guter Wegschauer ist. NACHLESE --> Ausgerechnet Curling --> Fahrraddiebe --> Der Leuchtturm --> Luftgitarren-Weltmeisterschaft --> Kleine grüne Türen --> Lebensschule Supermarkt --> Der Gorilla und der Putztrupp --> Der Taubenverhafter --> Nachweihnachts - Krawattenblues --> Freude mit Pflanzen --> Den Euro lieben lernen --> Weitere Stadtgeschichten...