Netzpolitik
Verschwörungstheorien erregen die Gemüter
E-Mail-Affäre belastet Beziehung zwischen Brüssel und Ankara - Diplomatische Verwicklungen im Zeitalter des Internet
Früher reisten vertrauliche Depeschen per
Diplomatengepäck. Heutzutage berichten Gesandte ihrer Zentrale auch
per E-Mail. Für die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen der
Türkei und der Europäischen Union haben sich solche modernen
Kommunikationsmethoden als riskant erwiesen. Denn seit mysteriöse
Hacker geheime E-Mails der EU-Vertretung in Ankara knackten, jagt
eine Verschwörungstheorie die nächste.Es begann am 8. Februar
Begonnen hat die abenteuerliche Geschichte am 8. Februar - kurz
vor einem Treffen zwischen Vertretern der Organisation der
Islamischen Konferenz und der EU, die sich in Istanbul mit dem Thema
der interkulturellen Verständigung befassten. Angestoßen wurde sie
von Dogu Perincek, den Chef der linksnationalistischen Splitterpartei
IP, einer der wenigen weltweit verbliebenen politischen Formationen,
die sich noch maostisch nennen.
Politiker im Besitz vertrualicher E-Mails
Der Politiker, ein Außenseiter der politischen Szene in der
Türkei, verkündete, er sei im Besitz von hunderten vertraulichen
Depeschen der EU-Vertreterin in Ankara, Karen Fogg. Kurz darauf
veröffentlichte er die E-Mails in der Postille seiner Partei,
"Aydinlik". Außerdem verteilte er die Mitteilungen an die Brüsseler
EU-Behörden sowie an diverse türkische Ansprechpartner und großzügig
auch an die Presse des Landes. In den Texten ging es unter anderem um
eine mögliche finanzielle Unterstützung der EU für eine
kurdischsprachige Zeitung sowie um Einschätzungen der politischen
Reformen in der Türkei, der Beziehungen zu Europa und zur
Zypern-Frage.
Spionin oder doch nicht?
Wie er an die E-Mails gekommen ist, behält Perincek für sich.
Dafür verbreitet er die Theorie, die EU-Vertreterin sei eine Spionin,
die gegen türkische Interessen manövriere und daher als persona non
grata des Landes verwiesen werden müsse. Ein islamischer
Fernsehsender griff das Thema auf und organisierte eine lange Debatte
über die angebliche Spionageaffäre. Bei der Abschluss-Pressekonferenz
des Istanbuler Treffens bezeichnete der türkische Außenminister
Ismail Cem die Affäre als "Verbrechen" und "Schande" für das Land und
kündigte an, die Justiz werde sich darum kümmern.
Verschwörungstheorien von allen Seiten
In einem Land mit oft undurchsichtigen politischen Kanälen kann
eine solche Erklärung freilich nicht verhindern, dass die
Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden sprießen. Im Zentrum
steht die Frage, wer die E-Mails an den dubiosen Maoisten
weitergeleitet hat. Der türkische Geheimdienst MIT? Die Armee? Andere
vermuten als Drahtzieher Kräfte in den "Tiefen des Staates" - damit
werden in der Türkei gemeinhin jene okkulten Machtstränge innerhalb
des Staatsapparats bezeichnet, wo sich Geheimdienstleute und
Ultra-Nationalisten tummeln und die mit den dunkelsten Affären des
Landen in Zusammenhang gebracht werden.
"Ausländer, die die Türkei nicht wollen"
Wieder andere verdächtigen "anti-europäische Kreise", die den von
Ankara angestrebten Beitritt in die EU vereiteln wollten. Immerhin
kam der Skandal zwei Wochen nach einem Gespräch Foggs mit dem
türkischen Regierungschef Bülent Ecevit ins Rollen. Dabei kritisierte
die EU-Vertreterin ein Reformpaket als unzureichend, das die
Meinungsfreiheit in der Türkei verbessern und das Mittelmeerland
somit demokratischen EU-Standards annähern soll. Vize-Regierungschef
Devlet Bahceli, Chef der rechtsextremen Nationalistischen Aktion,
sieht seinerseits die Verschwörer im Ausland. Es gebe "gewisse
ausländische Kreise, die die Türkei nicht in der EU haben wollen",
raunt er.
Nicht gut für Beziehungen
Fest steht jedenfalls, dass die Affäre die ohnehin schwierigen
Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zusätzlich vergiftet. Am
Dienstag reagierte die Europäische Kommission, indem sie den
türkischen Botschafter in Brüssel, Nihat Akyol, einbestellte. Dem
Vernehmen nach forderte Erweiterungs-Kommissar Günter Verheugen, die
Türkei müsse die Verbreitung der E-Mails unterbinden. Notfalls werde
die EU "selbst alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die
Sicherheit ihrer Delegation in Ankara zu gewährleisten", sagte ein
Sprecher der Behörde. Nach seinen Angaben könnte sich
Kommissionspräsident Romano Prodi persönlich der Sache annehmen und
dazu mit Ecevit zusammentreffen.(Florence Biedermann/AFP/APA)