Standardsituation für Thrilleranfänge: einer liegt im Spital und erinnert sich an nichts. Der Journalist Fabio hat aufgrund eines Schlags auf den Kopf sein Gedächtnis verloren. Er hat eine Amnesie, die sich über fünfzig völlig ausgelöschte Tage erstreckt. Die Rekonstruktion des schwarzen Gedächtnislochs ist mühsam. Fabio entdeckt, dass ein Freund aus der Redaktion mit seiner Freundin ein Verhältnis hat. Er erinnert sich nicht an die neue Flamme, mit der er seine frühere Freundin betrogen hat, er erinnert sich nicht, dass er den Job in seiner Zeitung gekündigt hatte, und er wird den Verdacht nicht los, dass Leute, die ihm angeblich helfen, die verlorenen Wochen zu rekonstruieren, ihm Dinge erzählen, die nicht wahr sind. Doch je angestrengter Fabio sich zu erinnern sucht, desto fremder wird er sich selber. Und das Misstrauen wächst. Was hat seine Reportage über Selbstmörder, welche sich vor einen Zug werfen, mit dem Lebensmittelkonzern zu tun, in dem seine neue Geliebte beschäftigt ist? Es scheint so zu sein, dass Fabio in den Wochen vor seinem geheimnisvollen "Unfall" eine seltsame Verwandlung durchgemacht hat. Alle bestätigen ihm, dass er sich plötzlich von einem netten Kumpel in einen ausgesprochen unsympathischen Zeitgenossen verwandelt hatte. Suters einfach konstruierte, lineare Geschichte um das Problem einer zerbröselnden Identität ist gutes Handwerk, an der sich allerdings auch zeigt, dass die Tendenz, Suter zu einem Schweizer Literaturstar hochzujubeln, entschieden übertrieben ist. Martin Suter, Ein perfekter Freund. EURO 20,50/öS 282,09/ 338 Seiten. Diogenes, Zürich 2002. Schuld und Sühne sind die unerschöpflichen Leitmotive des amerikanischen Kultautors, der seit langer Zeit in Wien lebt. Auch diesmal wieder ist seine unheimliche Welt von rigorosem Puritanismus geprägt. Mirandas Schuld ist, dass sie sich in einen Antiquitätenhändler verliebt, der einem tödlich verunglückten Jugendfreund ähnlich sieht. Miranda zerstört damit Hugh Oakleys Familie und die möglich gewesenen Varianten des Lebens für alle Beteiligten. Miranda erhält ungebetene Einblicke in diese potenziellen Schicksale, die sich ohne ihr Auftauchen anders entwickelt hätten. Hugh hätte noch einen Sohn bekommen, er wäre Jahre später immer noch mit seiner Frau zusammen, er würde älter werden. Aber so hat ihn früh der Herzschlag ereilt, kaum dass Miranda und er sich ein eigenes Haus gesucht und sich ein gemeinsames Leben einzurichten begonnen haben. Welche Entscheidungen wir auch immer treffen, sie haben Einfluss auf die Menschen, die wir kennen. Viele Parallelschicksale sind möglich. Die andere Welt reicht wie ein Pilzgeflecht mit vielen kleinen Wurzeln bis in unseren Alltag, manchmal lüftet sich für einen Moment der Schleier und es kommen verstörende Signale an. Wer sich darauf einlässt, wird über eine unsichtbare Grenze gezogen und gerät in einen Sog mit eigener Logik und eigenen Gesetzen. Carroll verunsichert den Leser mit seinen schillernden Charakteren. Sie sind zweideutig, offenbaren ihre Nachtseite sehr plötzlich, sodass sich die Figuren immer auf schwankendem Grund befinden und die Erwartungen des Lesers systematisch in die Irre geführt werden. Es gibt wenige Autoren, die mit einem Minimum an vordergründigem Horror eine derart beängstigende Wirkung erzielen. Jonathan Carroll, Fieberglas. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. EURO 20,50/öS 282,09/376 Seiten. Eichborn, Frankfurt am Main 2002. Die Frau ist vom Fach: erst Fernsehjournalistin, dann stellvertretende Polizeichefin von Oslo und später norwegische Justizministerin, das sind die idealen Voraussetzungen für realitätsnahe Krimis. Anne Holt ist zweifellos eine der besten Autorinnen aus Skandinavien und das, obwohl es gerade im Norden vor exzellenten Vertretern des Genres nur so wimmelt. Holt gibt im Nachwort an, dass die Idee zu diesem Roman von einem realen Fall inspiriert wurde, bei dem möglicherweise ein Justizirrtum vorlag. Die Geschichte eines unschuldig Verurteilten verknüpft sie mit einer Serie von Kindesentführungen, bei der die Ermittler zunächst keinerlei Zusammenhänge erkennen können. Die Kinder werden ermordet aufgefunden - mit einem rätselhaften Zettel versehen "Du hast bekommen, was du verdienst". Nur die kleine Emilie, das erste Entführungsopfer, taucht nicht wieder auf. Lebt dieses Kind als einziges noch, und wenn ja, wo wird es gefangen gehalten? Die Polizei sucht Rat bei einer Wissenschafterin, die sich zunächst nicht mit dem Fall befassen möchte, weil sie selber eine kleine Tochter hat und ihr die grauenvollen Schicksale der Kinder zu nahe gehen. Holt erzählt aus den verschiedenen Perspektiven des Täters, der Opfer und der Ermittler. Sie schildert voll Sarkasmus die Liveübertragungen des Fernsehens, als ein Exhibitionist auf der Flucht zu Tode gehetzt wird. Sie beschreibt, wie brisante Akten nicht nur in der Fiktion des Romans verschwinden können, und wie Juristinnen mit langem Gedächtnis und Hartnäckigkeit zu Erkenntnissen kommen, die niemandem genehm sind. Es sind viele Einzelheiten, die sich zu einem kompakten Krimi über ein sauberes, kleines Land mit unerwarteten Untiefen runden. Anne Holt, In kalter Absicht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. EURO 20,50/öS 282,09/365 Seiten. Piper, München, Zürich 2002. (Von Ingeborg Sperl - DER STANDARD,Album, 16.02.2002)