Wien - In den Neunzigerjahren brandete eine Flutwelle junger Dramatik über den Ärmelkanal und überspülte das europäische Festland: Sarah Kane, Mark Ravenhill, Martin McDonagh, Enda Walsh hießen die Autoren, alle waren unter dreißig. Sie schrieben über Themen einer trostlosen Gegenwart, wie man sie zuletzt nur im Film zu finden gewohnt war. Ihre Protagonisten waren jung wie sie selbst, nur weniger erfolgreich: Verlierer einer Gesellschaft, die ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken geruhte. Auffallend war die körperliche Brutalität in ihren Stücken. Der Zorn auf Margaret Thatchers Politik der sozialen Härte, der gemeinsame Grundimpuls der jungen Autoren, fand Ausdruck in Bildern körperlicher Aggression, von Gewalt und Verwundung. Sucht man nach einer Geburtsstunde dieser britischen Dramatikerbewegung, könnte man provisorisch den 12. Januar 1995 nennen: das Datum der Uraufführung von Sarah Kanes erstem Stück Zerbombt , das tatsächlich wie eine Bombe in der britischen Theaterlandschaft detonierte. James Macdonald war es damals, der das Stück am Londoner Royal Court Theatre inszenierte. Er begleitete Kanes Arbeit, brachte drei ihrer fünf Dramen zur Uraufführung. Am heutigen Sonntag wird er im Kasino am Schwarzenbergplatz in Wien ihren letzten, posthum erschienenen Text, 4.48 Psychose , herausbringen, einen stillen Sprachakt ohne klar definierte Figur - ein poetisches Ringen mit den dunklen Kräften der Depression. S TANDARD : Selten gab es in den letzten Jahren eine so energische Aufbruchbewegung des Theaters wie das New British Drama. Wie erklären Sie sich, dass ähnliche Bewegungen im deutschsprachigen Raum nicht stattfinden? Macdonald: Ich denke, wenn man eine Kultur des neuen Dramas entwickeln will, muss man eine entsprechende Infrastruktur schaffen. Man muss ein Klima erzeugen, in dem Autoren das Schreiben von Dramen als Ausdrucksmittel begreifen. S TANDARD : Sie arbeiten seit 1992 als Regisseur am Royal Court Theatre. Dort existiert eine Form von Autoren-Pflege, wie sie im deutschsprachigen Raum, vielleicht weltweit, ihresgleichen sucht. Macdonald: Das Royal Court Theatre versteht sich seit seiner Gründung durch George Devine dezidiert als Autorentheater. Ziel der Company war es von Anfang an, ausschließlich neue Stücke zu spielen. S TANDARD : Das gibt es hier auch. Am Royal Court spielen Sie aber nicht nur neue Stücke, Sie betreuen deren Entstehung. Macdonald: Wir geben viele Stücke in Auftrag. Momentan haben wir etwa 30 Autoren unter Vertrag. Pro Jahr bringen wir in unseren zwei Häusern 16 neue Dramen heraus. S TANDARD : Das klingt nach viel Geld. Macdonald: Im Gegenteil. Verglichen mit hiesigen Häusern haben wir ein winziges Budget. Aber unser Fokus ist, möglichst viele Texte auf die Bühne zu bringen. Damit die Autoren Theaterpraxis lernen. Ein Dramaturg betreut die Autoren, viele von ihnen binden sich langfristig an unser Haus. Außerdem organisieren wir Summer Schools mit internationalen Dramatikern und ein Young Writer's Program, bei dem wir in Schulen gehen. S TANDARD : Der Autor als Zentrum des Theaters? Macdonald: Ja. Wir sichern den Autoren auch vertraglich Rechte zu. Sie wählen den Regisseur, den Bühnenbildner. Sie sind auf den Proben anwesend. Das alles ist normalerweise ein Tabu in Europa: Hier sind die Könige der Bühne Regisseure und Schauspieler. S TANDARD : Eine Ihrer wichtigsten Autorinnen war Sarah Kane. In Wien inszenieren Sie jetzt "4.48 Psychosis", Sarah Kanes letztes Stück. Einen Text, bei dem die Worte keinem Körper zugewiesen sind, gleichsam im Raum schweben. Falk Richter entschied sich in seiner Berliner Inszenierung für eine Besetzung mit vier Schauspielern, drei Frauen, einem Mann. Macdonald: Ich habe lange gezögert. In 4.48 gibt es keine Stimmen, alle Sprache hallt in einem Kopf. Ich wollte es aber nicht mit nur einem Schauspieler besetzen, da es nicht als autobiografische Note zu einem Selbstmord, als Einzelfall wirken sollte. Das Thema des Stücks ist die Depression. Und Depressionen sind heute ein großes gesellschaftliches Problem. Etwa 50 Prozent der Frauen in Großbritannien und der Männer leiden irgendwann in ihrem Leben daran. Wir sehen jetzt drei Personen in derselben Situation. Das macht die Erfahrung universeller. S TANDARD : Ein dreistimmiges Lied vom Leiden . . . Macdonald: Der Text ist sehr sorgfältig strukturiert als Bild einer Depression. Sarah nannte ihn ein "experimentelles Bild". Sie wollte zeigen, wie die Krankheit sich anfühlt. In jedem Stück suchte sie nach einer adäquaten Form. 4.48 ist die Beschreibung eines Zustands, in dem es keine Entwicklung gibt. S TANDARD : Keine Handlung. Macdonald: Ja. Depression riskiert, ein sehr langweiliger Stoff für das Theater zu sein. Aber im Inneren des Kopfes existiert eine große Energie. (Cornelia Niedermeier/DER STANDARD, Print, Sa./So., 16.02.2002)