Man sollte berühmte Orthopäden nicht auf den Kopf zu fragen, wie man mit verbogenen Gliedmaßen umgeht, wenn ihre Ordination zu Ende ist, und Computerfachleute nicht nach Abstürzen. Und am wenigsten sollte man Ikonen fragen, wie man mit Ikonen umgeht. Wie sollte man also mit Marlene Dietrich umgehen, jetzt, wo die Filmschau im Imperialkino zu Ende gegangen ist? Zum siebzehnten Mal, jetzt in diesem Kino, das offiziell im ersten, in der Rotgasse, für mich aber tief im zweiten Bezirk liegt, Der blaue Engel . In Heinrich Manns Lübeck gab es 1889 auch ein Lokal "Im blauen Engel". Blaue Engel sind dankbar. Blau - die Farbe von Klosteruniformen und Marinegewändern - ist auch die Farbe einer Sinnestäuschung: der durchscheinenden Finsternis, der reinen Schwärze. Sich im "blauen Engel" auch nur provisorisch einzurichten klingt verwegen genug. Für mich war es heute die letzte Chance, denn die Feier von Dietrichs hundertstem Geburtstag nahm im Imperialkino sein vorhersehbares, aber doch abruptes Ende. Zum letzten Mal der tote Zimmervogel zum Morgenkaffee, die Bemerkung der Haushälterin: "Er hat ohnehin nicht mehr gesungen", ehe sie ihn ins Feuer wirft. "Stars are not wanted now" (W. H. Auden), aber gerade diese ungewollten Sterne tauchen aus dem Schatten, wenn keiner sie braucht. So erscheint Marlene Dietrich als "Lola, Lola" auf der Türschwelle einer abstürzenden Existenz: Nicht nur Schwellenangst prägt den Professor, sondern eine Gewissheit, die keine Angst, keine ihrer Details aufgibt. Er stolpert nach dem Morgenkaffee mit blauem Zylinder und blütenweißen Taschentüchern in den Untergang. Am 1. April 1930 hatte Der blaue Engel seine Weltpremiere - einer der geglücktesten und entlarvendsten Aprilscherze. Ab 1933 kamen noch einige viel grausamere und ziemlich ungeglückte Aprilscherze dazu. Emil Jannings fiel wie Heinrich Manns Professor Unrat auf die meisten der ab 1933 offiziell angebotenen Scherze herein. Marlene Dietrich zögerte keine Sekunde lang, sie abzulehnen. Dem April bleibt sie treu, vor allem dem 1. April. Im März 1930 nimmt sie ein Angebot der Paramount Studios in Hollywood an und beeilt sich wegzukommen. Am Abend des 31. März versäumt sie die Premiere des Blauen Engels im Gloria-Palast und ist schon am 1. April auf der "Bremen" zu einer Erkundungsfahrt in die Vereinigten Staaten unterwegs. So verpasst sie den ersten Blick auf die guten Kritiken in Berlin. Dass sie ein Ereignis war, wussten damals die meisten vor ihr. Ihr "stummes, narkotisierendes Spiel" war glücklich gelandet. Wie der "blaue Engel" selbst, "der Triumph der Dekadenz". 1927 kam sie nach Wien, spielte in den Kammerspielen und im Theater in der Josefstadt in den Stücken Broadway und Die Schule von Uznach und fällt dabei Felix Salten auf, der früh mit Bambi , den Fünfzehn Hasen und mit Josefine Mutzenbacher. Geschichte einer Wiener Dirne reüssierte. Bambi und die Fünfzehn Hasen lagen später unter dem Christbaum im dritten Bezirk. Vielleicht wäre Josefine Mutzenbacher weniger langweilig gewesen. Aber die frühe Gefahr, gelangweilt zu werden, oder die Angst davor, hilft am Ende. Wie Marlenes 100. Geburtstag nicht nur den früheren und späten Abenden geholfen hat, in der dunklen Rotgasse, im noch dunkleren Kino. Die nächste "Unglaubwürdige Reise" wird nächsten Freitag angetreten.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. 2. 2002)