Unserem westlichen Nachbarland geht es derzeit nicht besonders gut. Die Bundesrepublik rüttelt am europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, involviert Europa in ihre inneren Schwierigkeiten und wird wegen des lockeren Umgangs mit dem Budgetdefizit von der EU verwarnt. Die internationalen Kommentatoren sind sich zwar einig, dass hier kein Grund zur Schadenfreude vorliege - doch warum dann das Dementi? Und wenn keine Schadenfreude - warum dann diese Lust an schulischen Vergleichen? Vom "Klassenbesten" ist da zu lesen oder gar vom "Oberlehrer", der jetzt "Klassenletzter" sei, "nachsitzen" müsse etc.Ein "Oberlehrer" ist auch einer der wichtigsten literarischen "hässlichen" Deutschen, der Professor Raat aus Heinrich Manns Roman Professor Unrat. Wie in seinem Untertan versucht Mann auch hier, weit über das Zeit- und Anlassgebundene hinausgehend, typische Elemente der politischen Kultur Deutschlands in einer Person zu erfassen. Das Selbstwertgefühl des Lehrers Raat speist sich aus seinem rigiden Erziehungsideal, und die Art, wie er es durchsetzt, ist von einer gewissen sadistischen Lust nicht frei. In seinem Kampf gegen die Unmoral verfolgt der selbst ernannte V-Mann seine Schüler, die verbotenerweise zur Künstlerin Fröhlich in den "Blauen Engel" schleichen - eine tragische Begegnung, denn Raat erweist sich deren provozierender Weiblichkeit gegenüber als schwach. Auf einmal gelten die Grundsätze nichts mehr, mit denen er sein Leben lang die Umwelt tyrannisiert hatte, und er verfällt der Frau, mit der seine Schüler recht pragmatisch umgegangen waren. Ein "Musterland" ... Professor Unrat fühlt sich seinen Mitmenschen überlegen, doch tatsächlich war er noch nie mit der Versuchung konfrontiert. Raat spricht anders, als er handelt, und das macht ihn letztlich unberechenbar. Er ist kein Heuchler, sondern in seiner moralischen Phase genau so von sich selbst überzeugt wie in seinem Niedergang. Raat leidet an der "deutschen Krankheit": ehrgeizige, doch immer wieder die Realität leugnende Ziele, die selbstherrlich nach außen vertreten werden, ein daraus resultierendes Überlegenheitsgefühl, das den Regelbruch legitimiert, die Fähigkeit, anderen das eigene Selbstbild als Realität zu verkaufen, und dann die schnelle Verabschiedung vom eigenen Ideal - seit der Etablierung Deutschlands als europäische Großmacht hat das Land mit diesem Verhaltensmuster seine Nachbarn irritiert. Und so irritiert es jetzt politische Beobachter, dass gerade die politische Elite jenes Landes, das mit seiner Insistenz auf exakte Absicherung der Eurostabilität jahrelang seine Partner nervte, die Frage der Staatsverschuldung nun so locker sieht. Wie hätte die Bundesrepublik wohl reagiert, wenn solches einem der notorischen budgetären Schurkenstaaten unterlaufen wäre? ... hat immer Recht Als "Oberlehrer" hat die Bundesrepublik ja auch gegenüber Österreich in der Periode der so genannten Sanktionen gewirkt. Auch hier wurde das eigene Selbstbild erfolgreich als Realität verkauft: Deutschland, das Musterland, das mit seiner Vergangenheit ins Reine gekommen ist, und Österreich, das die gleiche Vergangenheit "verdrängt" hat und wieder einmal von ihr eingeholt wird. Das mutete schon damals eigenartig an, angesichts des Umstandes, dass die deutschen Behörden gegenüber einem aggressiven Auftreten von Neonazis in der Öffentlichkeit und einem hohen Ausmaß an rechtsradikaler Gewalt recht passiv agierten. "Oberlehrer" ... Die konsequente Anwendung eines einfachen, gegen Einzelpersonen eingesetzten strafrechtlichen Instruments, des Wiederbetätigungsgesetzes, hat Österreich die peinlichen Bilder von Glatzköpfen, die massenweise nationalsozialistische Parolen grölen, erspart - ohne Höchstgericht und ohne Parteiverbot. Den deutschen Behörden war diese Maßnahme offensichtlich zu lax, sie hatten seit Jahrzehnten den Rechtsradikalismus wortwörtlich im Griff, ein Großprojekt, das ähnlich tollpatschig ablief wie der Bekehrungsversuch der Künstlerin Fröhlich durch den Professor Raat. Letztendlich ist es ihnen gelungen, die NPD von innen her derart zu unterminieren, dass der Unterschied zwischen pflichtgetreuen Staatsdienern, die jahrzehntelang in der Rolle der Rechtsradikalen posierten und demnächst wohl ihre Pensionsberechtigung einklagen werden, und "echten" Extremisten völlig verschwommen ist - ähnlich wie der zwischen Professor Raat und einem gewöhnlichen Zuhälter. Die "deutsche Krankheit" ist jahrhundertealt - genau so wie ihr österreichisches Pendant: Während Österreich noch immer den Kampf der zwei Kulturen aus der Gegenreformation austrägt, laboriert Deutschland noch immer kompensatorisch an seiner verspäteten Nationsbildung. In Österreich tendiert man - allen gegenteiligen Stereotypen zum Trotz - zu oftmals übersteigerter Selbstkritik, die Nachfolger des Professor Unrat hingegen sind in ihrem Selbstwertgefühl der Realität gegenüber resistent. Noch ein Beispiel aus dem Kulturbereich: In seiner Dissertation über Karl Kraus hat Michael Naumann den Satz "Ich habe es nicht gewollt", mit dem sich der Kriegstreiber Wilhelm II. aus der Verantwortung zu stehlen versuchte, einfach Franz Joseph zugeschrieben und als typisch für den österreichischen Immobilismus vorgestellt. ... machen keine Fehler Solches kann passieren, und Rezensenten haben Nau- mann nach der Publikation auch eines Besseren belehrt. Das hat allerdings dreißig Jahre später den damaligen Staatsminister für Kultur, Naumann, nicht gehindert, anlässlich einer Gedenkfeier im österreichischen Kulturinstitut in Prag seinen Kommentar zum Entsetzen der anwesenden deutschen Kraus-Experten zu wiederholen. "Ober- lehrer" machen keine Fehler. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 6.2.2002)