Italien
Italien: Hunderte Korruptionsfälle könnten verjähren
Tausende kommen damit ungestraft davon - Ende der Ära der "Sauberen Hände" absehbar
Rom - Mailänder Staatsanwälte, die vor genau zehn Jahren
eine beispiellose Offensive gegen die Korruption in der italienischen
Politik und in der öffentlichen Verwaltung gestartet hatten,
befürchten nun, daß ihre Ermittlungen wegen der Ineffizienz des
veralterten Justizsystems umsonst gewesen sein könnten. Über 60
Prozent der Korruptionsprozesse könnten demnächst wegen Verjährung
suspendiert werden. Hunderte der insgesamt 3.200 Personen, die seit
1992 in den Sog der Korruptionsermittlungen geraten sind, würden in
diesem Fall wegen des Schneckentempos der italienischen Justiz
ungestraft davonkommen, warnte der Mailänder Staatsanwalt Gherardo
Colombo in einem für die Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera"
(Dienstagsausgabe) verfassten Bericht. Das italienische Strafsystem sieht vor, daß ein Prozess wegen
aktiver und passiver Korruption sowie illegaler Parteienfinanzierung
maximal siebeneinhalb Jahre nach Beginn der Ermittlungen beendet
werden muß. Auf Grund tausender anhängiger Verfahren muss man in
Italien oft Jahre auf den Beginn eines Prozesses warten. Bisher seien
bereits 30 Prozent der Verfahren wegen Verjährung eingestellt worden,
berichtete Colombo.
Freispruch für 14 Prozent
Da Dutzende von Verfahren noch im Gange seien, könnte dieser
Prozentsatz bald auf 60 Prozent klettern, so der Staatsanwalt. "Der
Bürger wird bald zu dem Schluss kommen, dass die italienische Justiz
nicht funktioniert, vor allem in einem Bereich, in dem die Schäden
für die Gemeinschaft besonders relevant sind", klagte Colombo. Nur 14
Prozent der Personen, die wegen Korruption vor Gericht gelandet seien
und deren Verfahren beendet wurden, erhielten einen Freispruch.
Vor zehn Jahren - am 17. Februar 1992 - begann mit der Verhaftung
des Mailänder Stadtratsmitglieds Mario Chiesa eine in Italien
beispiellose Offensive gegen die landesweite Plage der Korruption.
Die mit dem Namen "Saubere Hände" weltweit bekannt gewordene
Justizaktion ist in Italien zum Symbol des Erneuerungswillens
geworden und hat das Land in den 90er Jahren tiefgreifend verändert.
Das Mailänder Staatsanwälte-Pool, dessen Spitzenvertreter Antonio Di
Pietro zum Volkshelden geworden ist, konnte einmalige Erfolge im
Kampf gegen die Bestechlichkeit verbuchen, wegen des veralterten
Justizsystems könnten jedoch alle Bemühungen umsonst gewesen sein.
Öffentlichkeit hat Hoffnung verloren
Die Mailänder Staatsanwälte, die unter anderem ein
Korruptionsverfahren gegen den italienische Regierungschef Silvio
Berlusconi führen, glauben, die Öffentlichkeit habe die Hoffnung
verloren, daß die Justiz die Korruption ausmerzen werde. "Die
Öffentlichkeit ist sich bewußt, daß wegen der langjährigen Prozesse
die meisten Verdächtigten durch die Maschen der Justiz schlüpfen
werden", so Colombo.
Die Staatsanwälte haben dem Parlament mehrmals vorgeworfen, in
zehn Jahren kein einziges Gesetz erlassen zu haben, um die Korruption
aktiver zu bekämpfen. Seit Jahren diskutieren die Politiker über eine
Amnestie für Korrupte, ohne eine konkrete Einigung erzielen zu
können. Laut den Ermittlern sei eine Amnestie nicht mehr nötig: Wegen
der Verjährung der Verfahren würden sowieso Tausende von Personen
ungestraft davonkommen. (APA)