Kiew/Wien - Die 16-jährige Natascha friert. Nur mit einem dünnen Leiberl bekleidet, steht das kahl geschorene Mädchen gemeinsam mit ihren zwölf Freunden vor ihrer Behausung: einem ummauerten Loch, das zu einem unterirdischen Schacht führt, in dem die Fernwärmeleitungen für die heruntergekommenen Plattenbauten im Kiewer Vorstadtbezirk Liwobereschnaja verlaufen. Dort unten ist es warm, dort erfriert man im eisigen ukrainischen Winter nicht. Natascha ist ein Straßenkind, eines von offiziell 3000 in der ukrainischen Hauptstadt; tatsächlich soll die Dunkelziffer dreimal so hoch sein. "Seit vier Monaten lebe ich hier", sagt Natascha, "und ich habe Heimweh." Warum sie dann nicht nach Hause zurückkehre? Das Mädchen schweigt zuerst und erzählt dann von ihrem Elternhaus: Der Vater sei tot, die Mutter sei arbeitslos geworden und habe zu trinken begonnen, das habe sie nicht mehr ausgehalten. Ihr zehnjähriger Mitbewohner Jurij ist aus härterem Holz geschnitzt, Fragen zu seiner Herkunft beantwortet er nicht. "Ich mag das Leben auf der Straße", erklärt er. Was er denn später einmal werden wolle? "Ein Bomsch", sagt Jurij kühl, was am besten mit "Sandler" zu übersetzen ist. Die völlig verdreckten Kinder bilden eine verschworene Gemeinschaft, sie verteidigen ihr Revier gegen andere Straßenkinder, die ihnen den Fernwärmeschacht streitig machen wollen. Viele von ihnen schnüffeln Klebstoff, die halluzinogene Wirkung des billigen Teufelszeugs hilft gegen Hunger und Kälte. "Ich sehe dann immer schöne, bunte Bilder", schwärmt Jurij. "Diese Straßenkinder sind Waisen mit lebenden Eltern", erklärt Felicitas Filip, die durchsetzungskräftige Projektleiterin der österreichischen Caritas in der Ukraine. Der nahezu vollständige Zusammenbruch der ukrainischen Industrie, verbunden mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent, habe dramatische Auswirkungen. Mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet rund 30 Euro monatlich müssten Familien praktisch von der Hand in den Mund leben, die steigende Hoffnungslosigkeit der Armen führe zu einem dramatischen Anwachsen des Alkoholismus, viele Familien würden zerbrechen. Da die ukrainischen Behörden aus Geldmangel und Ignoranz nichts für die Straßenkinder tun können oder wol 3. Spalte len, hat die Caritas mit Spendengeldern der Pfarre Aspern bei Wien ein Heim für diese Kinder geschaffen. Dieses Heim hat sich unter der Leitung der Sozialpädagogin Wira Koshyl derart bewährt, dass das Kiewer Sozialamt plant, nach Caritas-Vorbild mehrere staatliche Heime für Straßenkinder in den nächsten Jahren zu eröffnen. Zwar meldete die Ukraine ein Wirtschaftswachstum von 15,1 Prozent im Vorjahr, doch in der Praxis merkt die Mehrheit der Ukrainer nichts davon. Tuberkulose, die Krankheit der Armen, breitet sich epidemisch aus, Pensionisten, die von umgerechnet 23 Euro monatlich leben sollen, nagen am Hungertuch. Unter den Menschen wächst der Zweifel an den Segnungen der zehnjährigen Unabhängigkeit, in Zeiten der Sowjetunion sei das Leben wesentlich besser gewesen, hört man oft. Dieser Resignation will die Caritas in der Ukraine entgegenwirken. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 5.2.2002)