Im oft belächelten Bereich der Kinderbücher schrieb sie Weltliteratur: Ein Nachruf auf Astrid Lindgren, die Erfinderin von "Pippi Langstrumpf", "Karlsson vom Dach" und und und . . .
von Claus Philipp
Ein Abschied wie der von Astrid Lindgren, deren Bücher man als Kind oft gelesen und als Vater zweier Kinder jeweils mindestens viermal vorgelesen hat - so ein Abschied ist eigentlich eine Privatangelegenheit. Beginnen wir mit einer persönlichen Erinnerung, die Lindgrens Philosophie auf den Punkt bringt. Der Kloß im Hals des Vorlesers

Am Ende von "Die Brüder Löwenherz", wenn die beiden Titelhelden nach heroischem Kampf gegen den Drachen Kattla gleichsam zum zweiten Mal in den Tod springen, hat man als Vorleser jedes Mal einen gewaltigen Kloß im Hals. Man stockt, und man schnieft, bis einen etwa ein fünfjähriger Zuhörer ziemlich energisch auffordert: "Papa, könntest du jetzt bitte endlich weiterlesen?" Recht hat er: Jonathan und Krümel Löwenherz springen ja gleichsam ins Licht, "und morgen liest du das noch einmal vor, oder?"

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Pippi - ein Name, herausgesprudelt im Fieberwahn der Tochter

Astrid Lindgren hat selbst einmal eine ähnliche Situation am Bett ihrer Tochter Karin beschrieben, in der Schmerz, Wehmut und kindliche Fantasie ebenfalls nah beisammen liegen: Karin Lindgren, 1941 mit einer Lungenentzündung ans Bett gefesselt, bat ihre Mutter, eine Geschichte zu erzählen: ",Was soll ich denn erzählen?', fragte ich. ,Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf', sagte sie unvermittelt, wie Kinder das manchmal tun. Sie erfand den Namen genau in diesem Augenblick. Es war einfach aus der Luft gegriffen. Im Fieberwahn stellte sie sich die eigenartigsten Sachen vor, erfand alle möglichen Namen und seltsamen Dinge. Und weil ,Pippi Langstrumpf' ein ziemlich merkwürdiger Name war, wurde es ein seltsames
Mädchen . . ."

Die "Ur-Pippi"

Sie wurde so seltsam, dass das erste Pippi-Manuskript 1944 von Verlegern abgelehnt wurde. Heute wird es von der internationalen Lindgren-Forschung verehrungsvoll Ur-Pippi genannt und unter einiger Geheimhaltung in der Königlichen Bibliothek in Stockholm verwahrt. Astrid Lindgrens erste Romanveröffentlichung hingegen sollte das eher konventionelle Mädchenbuch Britt-Mari erleichtert ihr Herz werden.

Kampf gegen Plutimikation

Erst 1945 wurde Pippi für ihren Kampf gegen Plutimikation mit mehreren Buchpreisen überhäuft. Nur ein Jahr später sollte sie im Taka-Tuka-Land Piraten mit schönen Namen wie "Messer-Jogge" oder "Blut-Svente" enervieren. Und bis zum heutigen Tag verstört sie Verfechter konventioneller, autoritärer Erziehung als unbeaufsichtigte und daher umso hellsichtigere Halbwaise: "Meine Mama ist ein Engel, und mein Papa ist ein Negerkönig. Es gibt wahrhaftig nicht viele Kinder, die so feine Eltern haben!"

Bis herauf in die frühen 80er-Jahre entfaltete Lindgren nun ein wahres Weltreich höchst erfolgreicher Kinderhelden, in dem gleichsam Fieberfantasie-Figuren mit realistischen Erinnerungswelten der Autorin wetteiferten.

Foto: APA/dpa/ SchmittAstrid Lindgren 1987 mit Nachbarskindern
Pippi - ein Name, herausgesprudelt im Fieberwahn der TochterAbenteuer: Feste

1907 in Vimmerby im südschwedischen Smaland geboren, beschrieb Lindgren ihre Jugendwelt mit den Kindern aus Bullerbü oder mit dem Michel aus Lönneberga in unsentimentalen Episoden, in denen ländliche Hierarchien ebenso treffend vergegenwärtigt werden wie der Volkssagenschatz zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts oder eine kindliche Perspektive, der jedes große Fest zum Abenteuer wird. Unüberbietbar etwa die Jüngste unter den Kindern aus der Krachmacherstraße, von der ein Bilderbuchtitel schwärmt: Na klar, Lotta kann radfahren!

Der kleine Mann mit dem Propeller am Rücken

Dagegen imponiert dann zum Beispiel Karlsson vom Dach, der kleine "gerade richtig dicke Mann in den besten Jahren", der mit einem Propeller am Rücken das Wasa-Viertel von Stockholm unsicher macht, in allem der "Beste der Welt" ist und seinem Freund Lillebror oft versichert: "Das stört keinen großen Geist." Dampfmaschinen explodieren lassen zum Beispiel oder der "Trybetualesische Schnupfen": Was soll's. "Heißa hopsa, Lillebror!"

120 Millionen verkaufter Bücher

Hörspiele, Kinofilme und TV-Serien (etwa mit der unvergesslichen "Pippi" Inger Nilsson) trugen das Ihre dazu bei, Lindgrens Werk zu einem einzigartigen Erfolgsphänomen werden zu lassen. 120 Millionen Bücher hat die berühmteste Schwedin, in 70 Sprachen übersetzt, verkauft. So sorgfältig gearbeitet die meist von Ole Hellbom inszenierten Filme aber auch sind: In ihrer federleichten Beschwörung kindlicher Fantasien treffen sie nicht immer die substanziellen Ängste, Einsamkeiten und Traurigkeiten, aus denen heraus Lindgrens Helden Glück finden.

Helden: kränkelnd oder auf sich gestellt

Besonders eklatant ist dies in den beiden Meisterwerken der Schriftstellerin, ihren letzten beiden Romanen Die Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter: hier ein kränkliches Kind, das seinen geliebten starken Bruder mehrfach zu verlieren droht, dabei aber das edelste Ritterabenteuer erlebt; dort ein Mädchen, das, von seinem Vater verstoßen, das freie, beständig gefahrvolle Leben in einem Wald voller Unholde und Schönheiten besteht.

Kinder lesen nicht auf die gleiche Art wie Erwachsene "Kinder mögen es, traurig zu werden. Und sie lesen nicht auf die gleiche Art wie Erwachsene. Die Trauer ist wichtig und unausweichlich in dieser Welt. Kinder, die krank sind und sterben werden, wissen das. Und Eltern, die ihnen sagen, dass sie bald gesund sind, lassen sie im Stich", sagte Astrid Lindgren einmal. Am Montag ist sie 94-jährig in Stockholm gestorben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.01. 2002) Posting-Nachlese Die bisherigen Postings der standard.at-Leserschaft zu Astrid Lindgrens Tod