Kaum ein Wissenschafter ist so populär wie der 1930 in einem Pyrenäendorf geborene und am Mittwochabend in einem Pariser Krankenhaus gestorbene Soziologe Pierre Bourdieu. Das verdankte der (einem US-Index zufolge) meistzitierte Franzose weniger seinen etwa 2000 Publikationen als der Tatsache, dass er - so beim Eisenbahnerstreik 1995 in der Gare de Lyon - "hinausging", aus den Büchern in die Welt, die umgekehrt schnell wieder in Bücher einging (so Gespräche mit Ausgebeuteten in Entwicklungsländern, Das Elend der Welt, 1993 ). "Die Intellektuellen müssen eine Kollektivkraft bilden und länderübergreifende Positionen beziehen", sagte er 1993 bei der Gründung des "Europäischen Schriftstellerparlaments", das "gegen ein Europa der Bankiers, der Technokraten, für ein Europa der Kindererziehung, des Umweltschutzes" kämpfen sollte. Der Kampf aller gegen alle auf umkämpftem Arbeitsmarkt zerstöre Solidarität: "Die beste Antwort auf den Rechtspopulismus wäre es, wenn Europa wirklich sozial wäre." Deshalb gründete er auch einen eigenen Verlag ( Liber - raisons d’agir ) und schrieb 1998 ein Buch gegen die "Mediokratie" ( Sur la télévision ). Aber diese Praxis wäre dem Professor am Collège de France nicht ohne jahrzehntelange, teilweise sehr empirische Forschung möglich gewesen: "Im Hause Durkheims", so Bourdieu, solle die Sozialwissenschaft "der Philosophie einige ihrer Probleme rauben". Statt der abstrakten Kategorien in Kants Kritik der Urteilskraft erstellte Bourdieu in Die feinen Unterschiede ( Les distinctions , 1979) Zigtausende Fragebögen über Geschmacksurteile, um den Zusammenhang zwischen sozialen Klassen und Lebensstilen empirisch herauszuarbeiten. Zugleich prägte er aber berühmt gewordene Begriffe, "Feld" und "Habitus": Jeder Handelnde ist gesellschaftlich determiniert innerhalb der Grenzen von Feldern - Berufsfelder, Institutionen. Die Lust an Empirie - für welche Bourdieu riesige Forscherteams einsetze - stammte aus seinen frühen Erfahrungen als Dozent in Algerien 1958, wo er nicht nur Arbeit und Arbeiter in Algerien (1958) erforschte, sondern auch die symbolischen Bewertungen des Bergstammes der Kabylen erschloss. So kam Bourdieu auch früh zu einer seiner berühmten Unterscheidungen: "Der ökonomische Kapitalbegriff reduziert die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf Warentausch und Profitmaximierung." Daneben gebe es aber das "kulturelle Kapital" - Bücher, Kunstwerke -, das durch Bildung erschlossen werden müsse: Diese frühen Einsichten prägten auch noch Bourdieus späte Forderungen an die Politik: "Lebensqualität für alle statt Profitmaximierung für wenige." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. 1. 2002)