"Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!" Mit diesen Worten versuchte 1948 der damalige Bürgermeister Ernst Reuter auf das Schicksal der Stadt zum Höhepunkt der Berlin-Blockade aufmerksam zu machen. 54 Jahre später probierten die Christdemokraten, mit diesem Zitat Aufmerksamkeit zu erregen und Reuter als Kronzeugen gegen den rot-roten Senat zu verwenden: Ausgerechnet Reuters Partei verhelfe den Kommunisten in Berlin, das sie einst aushungern wollten, wieder an die Macht.

Doch Reuters Sohn, der langjährige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter, weist diesen Vergleich zurück: Der neue Senat müsse harte Sacharbeit leisten. Dann werde "nach kurzer Zeit kein Mensch mehr von der rot-roten Gefahr reden". Ähnlich pragmatisch wie Reuter reagierten bisher Unternehmer und ihre Vertreter darauf, dass ausgerechnet ein Politiker der Postkommunisten das Wirtschaftsressort übernahm. Es mag daran liegen, dass ein Aufschrei deshalb ausblieb, weil der bundesweit populäre PDS-Politiker Gregor Gysi neuer Wirtschaftssenator wurde. Das PR-Talent Gysi taugt nicht als Investorenschreck.

Dennoch ist die Regierungsbeteiligung der SED-Nachfolgepartei elfeinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer eine Zäsur. Befürchtungen, dass die Kommunisten wieder auf dem Vormarsch seien, entbehren aber jeder Grundlage. Die PDS hat sich weitgehend von ihrer Vergangenheit distanziert und Unrecht explizit eingestanden, wenn auch eine Entschuldigung bei den Opfern noch aussteht. Bisher hat sich die Partei, wie das Beispiel der seit 1998 amtierenden rot-roten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern zeigt, in Regierungsverantwortung als höchst pragmatisch erwiesen.

Wo, wenn nicht in Berlin sollte die PDS, die Partei des Demokratischen Sozialismus, eine Chance erhalten zu zeigen, dass sie aus ihrer Geschichte gelernt hat? In der Stadt an der Spree wird man auf Schritt und Tritt an die Bruchlinien der deutschen Geschichte erinnert. Das Berliner Abgeordnetenhaus, in dem am Donnerstag der neue Senat gewählt wurde, befindet sich - durch ein noch erhaltenes Stück der Berliner Mauer getrennt - direkt gegenüber der Topographie des Terrors, dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier.

Das Berliner Regierungsviertel befindet sich in jenem Planquadrat, in dem historische Meilensteine gesetzt wurden, die die Entwicklung in ganz Europa beeinflussten: die März-Revolution 1848, die Ausrufung der Republik 1918, die Machtergreifung von Adolf Hitler 1933, der Mauerbau und -fall und die Wiedervereinigung 1990.

Diese Einigung ist längst noch nicht vollendet. Nicht ökonomisch und schon gar nicht in den Köpfen der Menschen. Die Wahlergebnisse für die PDS, die sich als alleinige politische Vertreterin der Ostdeutschen geriert und damit punktet, sprechen für sich. Fast die Hälfte der Wähler haben im Ostteil Berlins für die PDS votiert. Dass die Partei in der Wählergunst in den vergangenen Jahren zulegen konnte, zeigt auch, dass die Versuche der Ausgrenzung gescheitert sind.

Die rot-rote Regierung in Berlin kann mit ihrer Arbeit dazu beitragen, dass die Spaltung überwunden wird - nicht nur der Stadt, auch des Landes. Wenn dies gelingt, wäre Berlin ein positives Beispiel über die Staatsgrenzen hinaus. Berlin, das wegen seiner geographischen Lage als Drehscheibe zwischen Ost und West geradezu prädestiniert ist, kann in diesem Sinne ein Laboratorium für die europäische Einigung sein. Nach der EU-Erweiterung wird die deutsche Hauptstadt auch nicht mehr am östlichen Rande der Union liegen, sondern mitten im neuen Europa.

In Berlin muss jetzt angegangen werden, was in allen EU-Ländern nach der Aufnahme neuer Mitglieder bewerkstelligt werden muss: das Zusammenwachsen und das Herausbilden einer gemeinsamen Identität. Dass dies im Kleinen bisher nicht gelungen ist, zeigt, was im Großen noch auf uns zukommt. (DER STANDARD Print-Ausagabe 18.1.2001)