Daniel Glattauer

Der Prozess ist gelaufen, bevor er anfängt. Ein Tiroler Techniker muss bestraft werden. Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Schriftführerin, Journalisten, Studenten, Zuhörer - alle wissen: Der Angeklagte hat nichts Böses getan. Er hat sensible Liebesbeziehungen zu jungen Männern gepflegt. Dafür wird er zu drei Monaten bedingter Haft verurteilt.

"Gesetze sind da, um eingehalten zu werden, das betrifft auch mich", bedauert Richter Thomas Schrammel. - Es gibt eben kein Gesetz, das gestattet, sinn- oder würdelose Gesetze nicht zu befolgen. "Also tauchen wir ein in die Schwerkriminalität." - Paragraf 209, gleichgeschlechtliche Unzucht mit Personen unter 18 Jahren.

Den Prozess gab es schon einmal - vor dem selben Richter. Ende August hatte Schrammel von der Möglichkeit der Diversion Gebrauch gemacht. Der Diplomingenieur hätte 20.000 Schilling müssen, und wäre einer Vorstrafe entgangen. Im Oberlandesgericht war man dagegen: Der Angeklagte habe "schwere Schuld auf sich geladen", hieß es. Eine Verurteilung nach § 209 sei daher unumgänglich. Nun muss Richter Schrammel gegen seine Überzeugung sein eigenes Urteil korrigieren.

Seit der Studienzeit fühlt sich der Tiroler zu jungen Männern hingezogen. Mit 28 gab er seinem Drängen nach. Heute ist der Akademiker 37 und hat erst einige wenige Liebesbeziehungen gelebt. "Wie viele Freunde hatten sie?", fragt der Richter: "Vier", erwidert der Tiroler. "Bei Heterosexuellen würde man sagen - ,ein armer Teufel'", meint Schrammel.

Die so genannten Opfer hatten alles freiwillig getan. Sex war keine Bedingung und kam nur bei beidseitigem Verlangen vor. "Viele Ehemänner kümmern sich einen Schmarren darum, was ihre Frauen wollen", hält dem der Richter entgegen. "Wie viele derartige Kontakte hat es denn ungefähr gegeben?", würde er gerne wissen. "Schwer zu sagen", erwidert der Tiroler: "Das ist nichts, über das man Buch führt." - "Stimmt, das tut man erst im fortgeschrittenem Alter", bestätigt der Richter.

Anwalt Helmut Graupner kommt noch einmal auf den europaweit heftig kritisierten Paragrafen 209 zu sprechen. "Er wird bis zur bitteren Neige zum Teil mit gnadenloser Härte vollzogen. Das ist beschämend." Amnesty International führt den Tiroler übrigens als "Gewissensgefangenen" an, nachdem dieser als "hemmungsloser Triebtäter" zwei Wochen in U-Haft verbringen musste. (Der Standard, Printausgabe, 16.02.01)