Im Bemühen um tröstenden Zuspruch durch die Musenmutter Mnemosyne müssen sich Poeten, um sogleich auf der Höhe der Zeit zu erscheinen, in mehrfacher Hinsicht bewähren. An die Stelle der alten Empfindlichkeiten ist zum Beispiel der Wille zum rauschfreien Empfang getreten.Dichter wie der Rheinländer Thomas Kling, 43 Jahre alt und zuletzt Ernst-Jandl-Preisträger, hüten die Betriebsgeheimnisse ihres Handwerks, als wären sie Ingenieure in einem eifersüchtig vor zudringlichen Blicken geschützten Poesie-Betriebskomplex. Ihre überfeinerten Nerven sind geradezu zwanghaft auf Empfang eingestellt. Der Realitätsgehalt ihrer Gedichte beweist sich jedoch weniger an den Verhältnissen schlechthin als daran, wie die einzelnen Weltpartikel bereits die Signatur ihrer jeweiligen medialen Zurichtung in sich tragen. Anders gesagt: Kling, ein brillanter Detailverkäufer der von offizieller Stelle unterdrückten "Oral history", zwingt in seinen poetologischen Essays Schamanismus und Radiophonie derart leichthändig zusammen, dass man schon wieder stutzt. Wie, zum Himmel, gelangt die neue Schriftsprache am Hofe des Staufer-Kaisers Friedrich II. über Umwege zum Dichterpriester Stefan George ins schöne Rheinland? Alles hängt hier irgendwie mit allem zusammen; die Poesie, als unsichtbares Ganzes begriffen, hängt an den Fäden, die nur ein Strippenzieher wie Kling mit Bedeutung handhabt. Gedichte aus dieser mit Argwohn bewohnten Weltecke, in der Verwandtschaften salbungsvoll gestiftet werden, wo keine sind, ähneln denn auch häufig Nachschriften aus einer noch unbekannten Zukunft. Das uralte Dichterwissen, jener prekäre "Dichtermuth", den noch der arme Hölderlin in weithin schwingenden Perioden eingelöst hat, muss einerseits in Augenhöhe mit den kostbaren Alten, Homer, Horaz, Ovid usw., bewährt werden. Zum anderen macht sich aber auch ein Anspruch auf aktuelle Weltteilhabe geradezu zwanghaft geltend. Poeten wie Kling, oder auch dessen Generationsgenosse Durs Grünbein, ein echter Georg-Büchner-Preisträger, putzen ihre Poeme gerne mit Reim- und Schlüsselwörtern aus den Forschungslabors auf. Die Kostbarkeit der je eigenen Sinneseindrücke bedarf offenbar der Bereitstellung von naturwissenschaftlichen Kenndaten, um so etwas wie die Lust am eigenen Weltwissen ausreichend zu verbürgen. Dichter wie Kling setzen daher immer gleich das große Ganze aufs Spiel, wenn sie lediglich das verschwiegene Geschichtsdetail meinen. Es wird mit großer Münze bereitwillig ausgezahlt: Das Gedicht ist um kein Jota weniger als ein "akustisches und optisches Präzisionsinstrument zum Anschaulich- und Durchschaubarmachen der sichtbaren wie - verkürzt gesprochen - unsichtbaren Welt." Dieses Schicksal teilt das poetische Erzeugnis offenbar mit dem Stethoskop oder der Infrarotkamera. "Das gemachte Gedicht ist immer das Unerwartete." Hierin unterscheidet es sich in nichts vom Überraschungsei aus Kinderschokolade. Somit stiftet Kling einen Kanon, der noch in seiner Besonderheit die eigenen Erzeugnisse am besten zur Geltung bringen soll. Klings unangenehme Beflissenheit wird natürlich dort besonders deutlich, wo er seine Abneigungen zelebriert. Da werden Türen eingelaufen, die schon lange keiner schließen wollte. Der viel gescholtenen Ingeborg Bachmann wird neuerlich hinterhergesagt, dass sie in einer "Vierfruchtmarmelade der Metaphern" geschmacklos wate. Insbesondere an Bachmanns Genitiven kühlt Kling seinen Dichtermut. Wären indes nicht auch poetische Erzeugnisse zumindest denkbar, die gerade die Leistungsfähigkeit der viel gescholtenen "Genitivmetapher" testen? Sie sozusagen einer immanenten Würdigung unterziehen (ohne damit zu behaupten, dass die Bachmann eine solche Unternehmung im Sinn gehabt hätte)? Der Dichter-Seher und Cut-up-Klassiker reklamiert für sich das Erbe der "Wiener Gruppe". Die Stärken seiner Argumentation liegen jedoch eher in der eigentümlichen Transferleistung von Laut- in Schriftsprache, in Klings erfrischender Geltendmachung des Rhythmus gegenüber dem Metrum. In der aktuellen Ausgabe der Grazer Literaturzeitschrift manuskripte hat Kling übrigens dem 11. September hinterher gedichtet: In manhattan mundraum zwei versetzt er "in tätigkeit/ stetig das loopende auge". in einer "augn-zerrschrift" sucht der Poeta doctus das Unheil zu fassen - auch hierin den Kategorien einer Intellegibilität verpflichtet, die den Schockzustand der Wahrnehmung in eine zerfledderte Kalligraphie des Eingedenkens übersetzt. Nichts Neues unter der verfinsterten Sonne. Möchte man sagen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12./13. 1. 2002)