Der Skandal rund um Haiders Versuch, den Verfassungsgerichtshof (VerfGH) zu demontieren, treibt bemerkenswerte Blüten: Eine der jüngsten stammt von Samo Kobenter (STANDARD, 8. 1.), der im Kampf für die gute Sache seinen kühlen Kopf verliert und ohne Rücksicht auf Kollateralschäden den Sprengsatz vom "leidigen - und in der Grundsubstanz schreiend banalen - Vorwurf (. . .), der VerfGH treffe 'politische' Urteile" deponiert, um gegen mehr Transparenz im VerfGH zu polemisieren.Die andere, noch jüngere (9. 1.), leistet sich Bundespräsident Klestil, der mit unterkühltem Kopf Haider einen Persilschein ausstellt, indem er Gespräche mit der Bundesregierung ankündigt, um "einer Beschädigung des Ansehens der tragenden Elemente unserer rechtsstaatlichen Ordnung vorzubeugen" - als ob noch nichts passiert wäre. Zwei Richtungen Dem VerfGH ist mit beiden nicht geholfen. Denn sie gehen am Kern des Problems vorbei: Es hat, wie so oft, zwei Seiten. Die eine liegt auf der Hand. Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes sind unmittelbar nach ihrer Verkündung und Zustellung rechtskräftig und unanfechtbar. Ein Amtsträger, der am Vollzug solcher Erkenntnisse mitzuwirken hätte, die Mitwirkung aus politischen Gründen demonstrativ verweigert und dieser Verweigerung machtvollen Nachdruck zu verleihen imstande ist, erklärt dem rechtsstaatlichen Verfahren vor Gerichten den Krieg, versucht einen Verfassungsputsch. Etwas anderes ist die Richtung, die die Judikatur des VerfGH in der Zweiten Republik inhaltlich eingeschlagen hat. Stellt man sich auf den streng formalen Standpunkt des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG), so ist der VerfGH nicht befugt, Politik zu machen, sondern darauf beschränkt, die Verfassungsgesetze textgetreu anzuwenden. Diese Beschränkung hat er aber im Laufe der Jahre mehr und mehr abgeschüttelt. Seine Judikatur zum Gleichheitsgrundsatz ist auf weite Strecken durch den Verfassungstext nicht gedeckt und in ihrer Begründung bedenklich dürftig. Und wenn das Ortstafelerkenntnis vom 13. 12. auch in seinem Spruch, mit dem die Bestimmungen über die 25 Prozent-Schwelle für zweisprachige Ortstafeln aufgehoben werden, hieb- und stichfest begründet wurde - Haider ist deshalb auch auf diese Begründung nie eingegangen -, ist der in der Begründung angeführte Slowenenanteil von 10 Prozent als Grenze für eine gemischtsprachige Bevölkerung im Sinne des Artikels 7 des Staatsvertrages nicht nachvollziehbar: Warum nicht 4 oder 14 Prozent? Hier eröffnet der Artikel 7 für die Politik eine Bandbreite an möglichen Definitionen, aber nicht dem VerfGH, sondern dem Nationalrat. In Zeiten der SPÖ-ÖVP-Koalition, als sich diese noch "groß" nennen konnte, wurden die Ausflüge des Verfassungsgerichtshofes in die Politik akzeptiert, und zwar aus opportunistischen Gründen: Gelegentlich nahm er den Politikern eine unangenehme legislative Arbeit ab, die diese zwar für nötig hielten, aber in der Öffentlichkeit nicht vertreten wollten. Und außerdem konnten sie ihn ja im Bedarfsfalle - ja - "zurechtstutzen": durch die Durchsetzung ihrer politischen Ziele mittels ihrer Zweidrittelmehrheit als Verfassungsbestimmungen, wenn sie vom VerfGH als verfassungswidrig erkannt wurden. Rechtspolitisch Diese Zeiten sind aber vorbei. Zweidrittelmehrheiten für kontroversielle Verfassungsprojekte haben Seltenheitswert bekommen. Wir müssen also, wenn wir die Methode politischer Drohungen und persönlicher Diffamierungen ablehnen, damit leben, dass der VerfGH seine Kompetenzen sehr weit auslegt und in seiner Judikatur rechtspolitisch agiert. Das ist übrigens nicht unbedingt schlimm. Im angloamerikanischen Rechtsbereich kommt den Gerichten eine bedeutende Rolle bei der Weiterentwicklung des Rechts zu, und das nicht zum Schaden des Rechtsstaates. Für jene, die sich in ihren Interessen durch eine solche Rechtsprechung beeinträchtigt fühlen, die also "verlieren", ist diese Rechtsprechung aber nur erträglich, wenn sie durch ein transparentes und plausibles Verfahren der Beweiswürdigung, rechtlichen Beurteilung und Abstimmung über das Urteil und dessen Begründung nachvollziehbar und verständlich wird. Die Veröffentlichung abweichender Meinungen der in der Abstimmung unterlegenen Richter erfüllt hier eine wichtige Funktion. Denn die "Gefahr" der "dissenting votes" der Insider zwingt die Mehrheit, die sich durchgesetzt hat, ihre Entscheidung so fundiert zu begründen, dass sie in der Öffentlichkeit gegen diese abweichenden Meinungen bestehen kann. Veröffentlichung So manches Erkenntnis der VerfGH hätte vielleicht anders ausgesehen, hätte es sich der veröffentlichten Meinungsvielfalt der Richter aussetzen müssen. Heinrich Neisser, einer der wenigen Politiker, die sich nie geduckt haben, wenn es um die Verteidigung des Rechtsstaates ging, schrieb schon vor etwa vierezig Jahren in einer Arbeit zur Problematik der Judikatur des VerfGH (gemeinsam mit Schantl und Welan, wenn ich mich recht erinnere), nicht die Verhandlungen vor dem VerfGH sollten öffentlich abgehalten werden, das sei nur eine Show zur Auffettung anwaltlicher Honorare, sondern die Beratungen der Richter. So wie die Dinge liegen, wird es wahrscheinlich nicht möglich sein, dem Ortstafelerkenntnis des VerfGH gegen den Willen Haiders und der FPÖ zur Wirksamkeit zu verhelfen. Heinz Mayer hat das in einem Kommentar in der Presse (5. 1.) eindrucksvoll argumentiert. So scheint die Republik an einem Punkt angelangt zu sein, wo der Rechtsstaat nicht mehr durch das Recht, sondern nur noch durch die Macht der öffentlichen Meinung geschützt werden kann. Haider müsste spüren, dass sich die Österreicher den Schutz ihrer Grundrechte durch den VerfGH nicht rauben lassen. Die "Veröffentlichung" des VerfGH ist dafür eine unverzichtbare Voraussetzung. *Der Autor ist Jurist und Publizist in Wien. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 11. 01. 2002)