Wien - Es ist ebenso erstaunlich wie erfreulich, dass es in Wien zwei Orchester gibt, die einander in Präzision und interpretatorischer Kompetenz in nichts nachstehen, aber trotzdem im Charakter grundverschieden sind. Noch stärker verblüffend wird diese Einsicht durch die Feststellung, dass eigentlich weder die Wiener Symphoniker, von denen hier die Rede ist, noch die Philharmoniker in ihrem Klangstil von Distanz und Reflexion besonders viel halten. Der Zugriff auf die Noten ist in beiden Fällen direkt und mit dem Vokabel "musikantisch" zutreffend bezeichnet. Von dort aus gabelt sich der Stil der beiden Ensembles ins verbindlich vielfärbig Philharmonische und in die durch schärfere Wechsel zwischen Licht und Schatten bedingte härter konturierende Spielweise der Symphoniker. Spielen Letztere Beethoven und Schubert, wie im Vormonat unter Georges Prêtre, erreichen sie ohne jede besondere Etikettierung mühelos festivalreife Spitzenwerte an authentischer Schlüssigkeit. Am vergangenen Mittwoch war vor allem der Mut zu bewundern, mit dem sich dieses Orchester, diesmal unter Vladimir Fedosejew, emotional mit Sergej Rachmaninows Rhapsodie für Klavier und Orchester über ein Thema von Paganini identifizierte. Immerhin reicht der stilistische Radius dieses Werkes von fast in Strawinsky-Nähe siedelnder, maschinell perpetuierter Rhythmik bis zu harmonisch raffiniert gemixten, wollüstigen Klangbädern. Als Motor dieser Wiedergabe fungierte zweifellos Oleg Maisenberg als Solist. Seine in keinem Moment nachlassende, fast dämonische Eindringlichkeit übertrug sich mühelos auf das Orchester, das von Fedosejew zu fugenlosem Zusammenspiel mit Maisenberg angehalten, sich zu hinreißenden Schönheitsräuschen zu steigern vermochte. Dies in einem solchen Maß, dass man sich von derselben Formation eine nicht minder fesselnde Wiedergabe der Castelli Romani von Joseph Marx sehr gut vorstellen könnte. An diese in diesem zentralen Teil des Abends gesetzte Marke reichte die Tragische Ouvertüre von Johannes Brahms noch nicht und Anton Dvoráks Symphonie Nr. 8 in G-Dur (op. 88) nicht mehr heran. Die Tragische hätte stärkerer Stringenz bedurft, wie sie zu Konzertbeginn schwer zu erzielen ist. Bei Dvorák vermisste man die lyrische Leichtigkeit. Sie wurde zur Freude des Publikums durch Tempo und dynamische Wucht ausgeglichen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. 1. 2002)