Schon nach der Lektüre von "Schokolade" bei Hanselmann, 1996 in deutscher Übersetzung erschienen, fragte sich der Kritiker, was er da eigentlich gelesen hatte. Er vertraute der Verlagswerbung, oder tat wenigstens so. "Der Roman ist auch eine Liebes- und Familiengeschichte, die immer mehr an Gehalt und an Tragik gewinnt." Unbestechlich die "psychologische Genauigkeit." Beruhigend, dass das "Meisterwerk in Italien bereits gefeiert wurde." Der Kritiker kann sich zurücklehnen, die Werbeleute erledigen seine Arbeit.Bei der neuesten Veröffentlichung Rosetta Loys sieht der Kritiker überhaupt keine Möglichkeit mehr, durch eigene Erkenntnis herauszufinden, was er da gelesen hat. Aber diesmal wird er gleich doppelt aufgeklärt. Einmal durch die Autorin, die im Nachwort darauf hinweist, dass hier von "einer unmöglichen Liebe" die Rede ist, "von der nur wenige Spuren geblieben waren" (der Kritiker hatte diese Spuren bei seiner Lektüre gar nicht bemerkt). Das war den Werbeleuten nicht genug, sie machten daraus oder lasen in dem kleinen Buch "eine große, unbedingte Liebe, wie sie nur Kinder empfinden können." Ja, die Liebe... Unmöglich und unbedingt. Die Liebe verkauft sich immer gut, haben die Werbeleute gedacht. Mit Recht, mit Recht. Wenn der Kritiker ehrlich ist, muss er gestehen, dass ihm doch einige Zweifel geblieben sind. Er will die doppelte Versicherung, dass er dies und jenes gelesen habe oder lesen werde, nicht ohne Widerstand schlucken. Diese Suppe eß ich nicht, diese Schokolade trink ich nicht... War da nicht vom Suppenkaspar die Rede in der Pforte des Wassers? Und vom Struwwelpeter? Von Paulinchen, das zu Hause verbrennt? War da nicht dieser Satz: "Vielleicht war Paulinchen Jüdin. Der Davidstern war aus dem Mantel gerutscht und baumelte schwer, aus von der Haut glänzendem Gold." Der Kritiker versteht zwar nicht, was es mit diesem Gold auf sich hat; er versteht nicht einmal, wie dieser Satz zusammengebaut ist. Aber er ahnt, dass hier irgend etwas Wesentliches angedeutet werden soll. Und er erinnert sich, dass auch in jenem Schokolade-Roman die Judenverfolgungen der neueren Vergangenheit vorkamen. Vielleicht, weil sie den Leser immer noch rühren? Aber der Kritiker fühlt sich nicht gerührt. Er fragt sich, wie ein Kind wohl eine solche Sicht der Welt haben kann, dass es in sein Kinderbuch einen gelben Stern hineinphantasiert. Nein, denkt der Kritiker, das ist Omas Perspektive, das hat sie nachträglich hinzugefügt. Die Oma tut nur so, als könnte sie sich an alles haarklein erinnern. Ja, denkt der Kritiker, vielleicht ist es das, vielleicht habe ich in diesem Buch die milden und vagen Phantasien einer römischen Oma gelesen. Aber warum ist die Oma bloß so prätentiös? Vielleicht, weil schon die Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, so preziös war? Keine Ahnung, denkt der Kritiker. Man müsste die Werbeleute fragen. Wie war das? Preziös? Oder prätentiös? Der Kritiker schlägt im italienischen Wörterbuch nach. Komisch, da stehen unter beiden Stichwörtern so ziemlich dieselben Bedeutungen. (DER STANDARD, Album, 29.12.2001)