"Motherland" (2001)




Coverfoto: Elektra

"Live in Concert" (1999)




Coverfoto: Elektra

"Ophelia" (1998)




Coverfoto: Elektra

"Tigerlily" (1995)




Coverfoto: Elektra
... who will draw the cavalry in and risk his very own precious skin to make our Angelinia a free and peaceful land again?

Damals, in den 80ern, da gab es zwei Schwesterbands, die hießen R.E.M. und 10.000 Maniacs. Beide führten auf ihre Weise die Gegenkultur der 60er in das neue Jahrzehnt hinüber, beide wandten sich an "the people" und erreichten damit zunächst in erster Linie ein akademisches Publikum.

Beide gründeten sich zeitgleich zu Beginn des Jahrzehnts, und beide machten sie über lange Zeit hinweg eine parallele Entwicklung durch: von Lieblingen des College-Radios stiegen sie - ohne stilistische Abstriche machen zu müssen - mit jeder neuen Platte höher in die Mainstream-Charts auf. An der Wende der 90er schließlich trennten sich ihre Wege: während R.E.M. in eine neue Umlaufbahn des Erfolgs hinaufexplodierten, lösten sich die Maniacs in ihrer bisherigen Form auf. Sängerin Natalie Merchant verließ die Band 1994 - nachdem sie als Abschiedsgeschenk die vielleicht schönste "MTV Unplugged"-Session der Geschichte hingelegt hatten (eine Inselplatte ... egal wie wenig man mitnehmen kann: die sollte dabei sein).

Take one last look behind, commit this to memory and mind ...

Merchant hat seitdem vier Platten veröffentlicht: das gefeierte Debüt "Tigerlily" (1995), die weniger erfolgreiche "Ophelia" (1998), eine Live-CD von einem Broadway-Auftritt (1999; inklusive einer famosen "Space Oddity"-Version, die Bowies Raumfahrermär kraft weiblicher Stimme als Mutter-Kind-Beziehung erkennbar macht: ... take your protein pills and put your helmet on ...) - und nun "Motherland". Die Jung-Band, mit der sie sich auf der ersten Platte noch, leicht unsicher offenbar, als Maniacs-Ersatz umgeben hatte, ließ sie ebenfalls hinter sich. Natalie Merchant ist längst vom Band-Mitglied zur Solokünstlerin geworden - ein Weg ohne Wiederkehr.

The remains of the year ... - die in den USA schon im November erschienene Platte ist in den Läden meistens unter dem schwammigen Begriff "Neo-Folk" eingeordnet. Schon die 10.000 Maniacs entzogen sich mit ihrer anfänglichen Mischung aus Folk, Avantgarde-Pop, Reggae, Calypso, Dub und anderen Elementen, unter denen im Lauf der Zeit schließlich Pop und Rock dominierten, geschickt allen Schubladisierungsversuchen. Wenn "Motherland" mit arabischen Lautenklängen beginnt ("This House Is On Fire"), bringt dies langjährige Merchant'n'Maniacs-Hörer daher keine Sekunde aus dem Konzept - auch nicht, dass gleich darauf in einer 180-Grad-Kehre mit dem Titelstück "Motherland" aufs Skelett abgemagerter Folk-Blues angeschlagen wird. Paradoxerweise mit Van Dyke Parks am Akkordeon übrigens.

Beware of the devil my child. Beware of his charming ways ...

Solcherart in Kargheit auf den Spuren Woody Guthries oder Leadbellys wandelnd (auch in der Cover-Ästhetik wird seit Maniacs-Zeiten gerne auf die Zwischenkriegsära zurück gegriffen), führt Natalie in das "andere Amerika" - in Zeiten, in denen in der US-amerikanischen Musikszene der Neopatriotismus den Traum von Freiheit und Frieden zuschanden rockt, erhält "Motherland" seine ganz spezielle Bedeutung.

Zwischen Folk, Blues und Gospel bewegen sich die Stücke "Saint Judas", "Put The Law On You", "Build A Levee" und "I'm Not Gonna Beg". Gospel-Sängerin Mavis Staples begleitet Natalie im Duett, und zwischen Hammond-Orgel und Schauerromantik zieht man durch die selben Landstriche wie Nick Cave. "Motherland" ist dunkler getönt als frühere Alben.

"Henry Darger", ein durchgehend in Kopfstimmlage gesungenes Stück Kammermusik, ist einem weiteren Vertreter einer Gegenwelt gewidmet: Henry Darger schrieb zurückgezogen in seinem Zimmer ein 19.000 Seiten umfassendes und mit phantastischen Illustrationen versehenes, durch und durch irrwitziges Manuskript: "The Story of the Vivian Girls, in What is Known as the Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinian War Storm, Caused by the Child Slave Rebellion", ein schlichtweg einzigartiges Stück Fiktion aus einem autistischen Universum.

You tell yourself that you're not pretty - look at you, your're beautiful ...

"Golden Boy", "Not In This Life", die Single-Auskopplung "Just Can't Last" und das mit einem Killer-Refrain ausgestattete "Tell Yourself" schlagen dann wieder leichtere, pop-beeinflusste Töne an, wie sie auf jeder 10.000 Maniacs-Platte zu finden hätten sein können. Natalies leicht wiedererkennbare Stimme mit den vernuschelten "r"s und "l"s kann bei gegebenem Anlass gehörig aufdrehen - vor allem aber kann sie warm und zärtlich klingen wie kaum eine andere.

Eklektizismus bringt es zwangsläufig mit sich, dass bisweilen auch daneben gegriffen wird: Auf Gabriel Gordons Dire Straits-Gitarre hätte man gerne verzichten können, ebenso wie auf die Flamenco-Anklänge in "The Worst Thing" ... aber gut, man kann nicht alles haben.

I swear I know your face, I wish I knew your name, I wish I could take you by the hand ...

Folk ist und bleibt "Motherland" wie auch seine Vorgänger-Alben durch das, was Natalie in ihren Songs erzählt, wem sie es erzählt und vor allem wie sie es erzählt: stets sind es Geschichten von Menschen - realen wie River Phoenix und Henry Darger oder auch fiktiven - nie geht es um abstrakte Gefühle oder Stimmungen. Sie singt von Armut, ungewollter Schwangerschaft, Lynchjustiz und dem Erwachsenwerden, von Glück und Tod - doch niemals im allgemeinen, sondern stets indem sie die Geschichte eines Menschen erzählt, der dies erlebt. Manchmal ist sie selbst dieser Mensch.

Und fast, fast schließt sich der Kreis, der geöffnet wurde, als Natalie 1988 dem Lied einer werdenden Mutter "Eat For Two" in der Studioversion die Worte five months now, I begin to show anfügte. 2001 endet sie das aufmunternde "Tell Yourself" mit and there's just no getting 'round the fact that you're thirteen right now. - Doch eben nur fast, denn Natalie ist keine Mutter, und ...

I know "once upon a time" and "ever after" is a lie.

(Josefson)