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Es war einmal eine sehr weise und alte Königin. Durch ihren klaren Verstand und ihre große Liebe hatte sie ihr Reich zu einer Blüte geführt, die sich sehen lassen konnte. Der einst karge Ackerboden brachte die köstlichsten Früchte hervor, so dass das Volk niemals Hunger leiden musste. Die Menschen ernährten sich hauptsächlich von Obst, Gemüse und Getreide, weil sie mit den Tieren in Eintracht lebten und es nicht übers Herz gebracht hätten, sie zu töten. Mit und durch die Natur zu leben war das oberste Prinzip dieses Volkes. Deshalb wurden auch viermal im Jahr großartige Feste gefeiert. Im Frühling, wenn die Zeit der Dunkelheit vorüber war und die Natur sich anschickte, wieder zu neuem Leben zu erwachen, gingen die Frauen des Stammes auf einen Berg. Dort entzündeten sie ein Feuer, in das sie große Steine legten. Danach bauten sie ein Zelt aus Stöcken und Tüchern, wohin sie die erhitzten Steine brachten. In dieser nun warmen Hütte riefen sie in Gesängen ihre Ahninnen an und baten sie um Kraft, die neuen Lebensgeister für das folgende Jahr zu wecken. Anschließend tanzten sie wie wild um das Feuer und warfen alles, was sie nicht mehr benötigten, in die Flammen. Zu Beginn des Sommers machten sich die Frauen auf den Weg, um Blumen, Gräser, Beeren und Flechten zu sammeln. Daraus flochten sie Kränze und Masken. In der Abenddämmerung bemalten sie ihre Körper mit Erdfarben, schmückten sich mit den Geflechten und bereiteten ein großes Feuer. Nach einem üppigen Festmahl aus Früchten, Gemüsen und Brot sprangen sie über das Feuer. Mit Trommeln, Rasseln und Flöten wurde zum Tanz gespielt. Wenn die Nacht gefallen und das Feuer beinahe niedergebrannt war, spuckten sie hinein und vertrauten ihm ihre Wünsche an. Im Herbst, wenn sich die Natur in ein buntes Meer von Farben verwandelt hatte, kamen die Frauen wieder zusammen. Sie brachten Blumen und Früchte und dankten den Göttinnen für die Fülle der Natur. Außerdem baten sie um Kräfte, um den kalten Winter gut zu überstehen. Wenn die Dunkelheit des Winters Einzug gehalten hatte, trafen sich die Frauen erneut und entzündeten ein Lichtermeer, um ihre Seelen darin zu baden. Sie saßen im Kreis und jede Frau erzählte eine Geschichte. Das war besonders für die jungen Mädchen und Frauen interessant, weil sie viel lernen konnten. Diese Jahreszeitenfeste, an denen nur Frauen teilnehmen durften, wurden von den Männern des Stammes gern gesehen. Sie wussten, dass die Frauen aufgrund ihrer Gebärfähigkeit Auserwählte waren, die den Geheimnissen der Natur näher stehen als sie selbst. Durch die Magie der Frauen waren auch die Männer geschützt. Sie hatten keinen Grund zu Neid und Missgunst, denn es ging ihnen sehr gut. Die Königin regierte gerecht und weise, so dass niemand im Land mehr Vorteile hatte als ein/e andere/r. In dieser alten Zeit – und ich sage dir, sie liegt schon mehr als 5000 Jahre zurück – als dieses Königinnentum blühte, waren viele andere von Frauen regierten Länder bereits zerstört, ausgerottet oder von Eroberern angeeignet worden. Eines Tages kamen fremde Männer und mit ihnen auch das Unglück in dieses Land. Zu Pferd, grausam und barbarisch, hielten sie Einzug, um das wunderbare Reich der Königin in ihre Macht zu bringen. Sie besaßen nichts außer einer kleinen Viehherde, von der sie sich ernährten. Fleischesser waren sie und Mitleid mit Tieren kannten sie nicht. Der Umgang mit der Natur war ihnen fremd. Sie wussten nichts von den Sternen am Himmel, nichts von der Mondin, die einmal prall wie eine Kugel, dann wieder schmal wie eine Sichel und manchmal gar nicht zu sehen war. Auch die Pflanzen kannten sie nicht, hatten keine Ahnung, welche essbar und wie aus der braunen Erde köstliche Früchte hervorzubringen sind. Ihre Sprache war einfach und derb, Musik und Tanz war ihnen unbekannt. Sie waren weder Maler noch Bildhauer, noch hatten sie Ideen, wie Stoffe zu weben und daraus fantasievolle Kleider zu machen sind. Auf ihrer langen Wanderung durch die öde Steppe Kasachstans, wo sie Ausschau hielten nach Tieren als Nahrung, waren sie zufällig auf das fruchtbare Land der Königin gestoßen. Neid stieg in ihnen auf, als sie die üppigen Äcker und Gärten und das friedliche Leben dieses Volkes sahen. Dies alles wollten sie besitzen, um jeden Preis. Zu diesem Zweck vergifteten sie in der Nacht alle Brunnen des Landes. Jeder Mensch, der daraus trank, musste wahnsinnig werden. Die einzige, die nicht dem Wahnsinn verfiel, war die Königin, denn sie hatte – mit ihrem klaren Blick – das nächtliche Treiben der Männer beobachtet und das Wasser des Brunnens gemieden. Was immer die Königin nun unternahm, um ihr Volk zu retten, musste vergeblich sein, denn für ihr wahnsinnig gewordenes Volk war es die Königin, die wahnsinnig geworden war. Als sie feststellten, dass die Königin trotz aller Bemühungen und Versuche ihrerseits nicht gesund werden wollte, beschlossen sie, dass es besser sei, sie zu töten. Da trat die Königin an den Brunnen und trank. Das Volk aber jubelte, da die Königin aus ihrer geistigen Umnachtung erwacht zu sein schien und den Verstand wiedergewonnen hatte. Und weil nun in Wirklichkeit auch sie selbst wahnsinnig war, war es für die barbarischen Eindringlinge ein leichtes, das blühende Reich in ihre Gewalt zu nehmen. Wie die Geschichte weitergegangen ist, kannst du dir leicht vorstellen. Schon nach wenigen Jahrzehnten lag das ehemals fruchtbare Land brach und immer mehr Tiere dienten als Nahrung. Sowie Feste zur Feier der Natur nicht mehr stattfanden, wurden auch die besonderen Kräfte der Frauen nicht mehr geschätzt. Im Gegenteil. Die Frauen wurden eingesperrt, weil sich die Barbaren vor ihnen fürchteten. Mit der Zeit hielten auch zwischen den Männern selbst Neid, Eifersucht und Hass Einzug in das vormals friedliche Land. Glück und Liebe waren verloren. (dabu)