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Und wenn/ ich ein Mensch wäre, wie denn?" Diese pessimistisch anmutende Frage ist wörtlich zu lesen. Der Lyriker Paulus Böhmer stellt sie und erdichtet nicht weniger als eine Weltinventur, um sie zu erkunden. Das Resignative schlägt zusammen mit dem vorangehenden Satz um in Entdeckerfreude: "Und wenn es/ ein Nichts gäbe, wie denn?" Böhmers Texte schreiben sich von diesem Nichts her, zu diesem Nichts hin, vom Zweifel her, hin zur Erkundung. Er leugnet nicht, was der Dichtung durch Celan und Beckett eingeschrieben ist. Seine aberwitzigen Erkundungsversuche streichen nicht die totalitäre Belastung der deutschen Sprache aus dem Gedächtnis. Vielmehr ist sie in ihnen als reflexives Moment stets präsent: "Wie lange soll man sich erinnern?/ Immer. Immer? Immer." Eine Auswahl der Arbeiten des Lyrikers, der im deutschen Sprachraum bisher nur von einem kleinen Kreis zur Kenntnis genommen wurde, liegt nun im Deutschen Taschenbuch Verlag vor. Damit wird dieses Werk zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Ergänzt wird das Buch um ein üppig-barockes Nachwort des Romanciers Alban Nikolai Herbst, der Böhmer den richtigen Platz zuweist. Es gebe bei ihm "keine Kontemplation, keinen Einhalt" heißt es dort. Bis auf jene gewichtigen Momente notwendiger Erinnerung bleibt diesen Strömen jede Argumentationsentfaltung, jedes Ausruhen und Verweilen bei Bild, Person oder Situation in der Tat fremd. Die Textmassen hetzen, hasten, absorbieren, verschlingen zuweilen, deuten, verschleiern. Langgedichte kreisen, die Elegie wird zum Hymnus. Wie aber gerät zum Hymnus, was beim Abgesang beginnt? "In Wirklichkeit sind die Worte/ die Schwarzen Löcher." Alles Vorhandene, sofern es in und zwischen die Zeilen gerät, muss erinnert werden und vergisst sich darin. Alles lässt sich sagen, was durch Akutes, Erinnerndes, Erhofftes treibt. Das ständige Versiegen und Hervorquellen, Stauen und Strudeln führt zur Einsicht: "Daß nun, wo alles gesagt ist, was gesagt werden/ muß, nämlich nichts, ich endlich/ die Worte habe,/ die ich brauche: keine. Ja." Und schon beginnt wieder eine verspielte Reihung ferner naher Vergleiche, oszillierend zwischen Ausgrabung und Massenprodukt. Die Verwendung entlegenster Worte, abgründiger Termini aus Psychoanalyse, Naturwissenschaften und Medien, auch die sprechenden Namen berühmter Philosophen und Schriftsteller lassen die Schrift ausfransen. Sie wabert, feiert, überschlägt, löst und fängt sich: ein dionysischer Rausch, eine Totenfeier, ein Ritual, das, wen?, um Unsterblichkeit bittet. Aber: "Wäre ich unsterblich, wollte ich leben?". Die Feier geht freilich weiter, denn "nee, nicht die Welt ist am Ende, /sondern wir, unsere Worte, die im Gestrüpp kalben." Hier wird nicht nur gekalbt, es paart sich Ekel mit Lust, Hysterie mit Resignation, es wird sich gezeigt, gezeugt und vernichtet, die Flüsse sind nicht zuletzt menschlicher Herkunft. "Das Rambazamba der weiblichen Körper (. . .) ein Faun macht sich gierig über einen männlichen/Corpus her", eine in guten Passagen eminent sinnliche, in schlechten bis ins platte Geplapper abrutschende Sprache zwischen Fleisch, Flüssigkeit und Herz. Wahrlich, es ist ein ständiges Zuviel und Zuwenig, das diese Gedichte durchtreibt. Sie brechen ein, bauschen sich auf, zerfasern, witzeln mitunter. Aber all dies wird in Strömen mitgerissen, banale Zeilen und Absätze verschwinden meist zügig in ihren eigenen schwarzen Löchern. Am Ende bleibt ein so beruhigender wie beunruhigender einfacher Gedanke, der vor allem in seinen Abgründen, aber auch in manchen Gründen durch Paulus Böhmers Hymnen erfahrbar wird: "Dass es uns gibt." (Von Christian Filips - DER STANDARD, Album, Sa./So., 15.12.2001)