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Der Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses macht dem Helden im aktuellen Kino-Krimi „Memento“ gehörig zu schaffen. Prof. Lüder Deecke , Vorstand der Klinik für Neurologie am Wiener AKH erklärt im Interview mit mymed.cc die Hintergründe derartiger Gedächtnisstörungen. Das Interview führte Peter Seipel Mymed: Herr Professor Deecke, wie oft sind Sie mit Fällen von Gedächtnisverlust an Ihrer Klinik konfrontiert? Deecke: Ein solches Ereignis ist für den Betroffenen natürlich eine katastrophale Sache. Glücklicherweise kommt das in der Realität aber nur selten vor. Die meisten derartigen Fälle sind in der medizinischen Fachliteratur beschrieben. Als Stoff für die Unterhaltungsliteratur und für Filmdrehbücher wird der Gedächtnisverlust allerdings immer wieder verwendet. Dadurch sind viele Menschen der Meinung, dass es sich um ein häufiges Phänomen handelt. Mymed: Was kann einen Gedächtnisverlust auslösen? Deecke: Da gibt es einerseits psychische Faktoren wie zum Beispiel die Verdrängung eines schockierenden Erlebnisses, an das man sich nicht erinnern möchte. Ich hatte selbst eine solche Patientin, die nach einem schweren Autounfall für sich beschlossen hat, ein völlig neuer Mensch zu werden. Sie hat alle Erinnerungen an die Zeit vor dem Unfall gelöscht. In so einem Fall muss man als Therapeut sehr vorsichtig sein und das neu errichtete Denkgebäude nicht einfach brutal zerstören. Ein sanfter Ausstieg mittels Psychotherapie oder Verhaltenstherapie ist da oft besser. Mymed: Gibt es auch organische Ursachen für einen plötzlichen Gedächtnisverlust? Deecke: Eine globale Amnäsie, also ein totaler Gedächtnisverlust ist wie gesagt sehr selten. Die Natur hat den Gedächtnisspeicher in unserem Gehirn sicherheitshalber doppelt angelegt. Im rechten und linken Temporallappen des Gehirns befinden sich die Regionen Hippocampus und Amygdala, die das Herz unseres Gedächtnis bilden. Das ist gleichzeitig auch die Region, in der es am häufigsten zu epilleptischen Anfällen kommt. Der kanadische Neurochirurg Wilder Pennfield hat herausgefunden, dass nach der einseitigen Entfernung des Temporallappens die epilleptischen Anfälle verschwinden, ohne dass der Patient Ausfälle von Gehirnfunktionen befürchten muss. Nur in einem einzigen Fall kam es nach einer solchen Operation zu einem totalen Gedächtnisverlust, dessen Ursache sich erst nach dem Tod und der anschließenden Autopsie des Betroffenen herausgestellt hat. Bei dem Patienten war der verbliebene Temporallappen bereits vorgeschädigt gewesen und konnte daher die Gedächtnisfunktionen nicht aufrecht erhalten. Mymed: Ist bereits geklärt, auf welche Weise das Gehirn die Informationen abspeichert? Deecke: Heute wissen wir nur soviel: Zuerst speichert das Kurzzeitgedächtnis die Informationen in den neuronalen Schaltkreisen des Gehirns ab. Nach einigen Minuten bis zu einigen Stunden findet eine Schnellspeicherung statt. Geordnet und im Langzeitgedächtnis abgelegt werden die Informationen aber erst während des Schlafes in der Nacht. Diesen Vorgang erleben wir als Träume. Während der REM-Phase spielt der assoziative Apparat unseres Gehirns mit den aufgenommenen Informationen, verknüpft sie zu meist unsinnigen Geschichten, bewertet und filtert sie. Damit sind die oft absurden Erlebnisse in unseren Träumen zu erklären. Eine Deutung diverser Traumsymbole ist daher aus meiner Sicht eher sinnlos. Die endgültige Abspeicherung im Langzeitgedächtnis hat wahrscheinlich eine chemische Grundlage, auf die wir aber bisher noch nicht draufgekommen sind. An der Klärung dieses Mechanismus arbeiten Legionen von Forschern in aller Welt. Mymed: Wie ist der schleichende Gedächtnisverlust im Alter zu erklären? Deecke: Es ist eine Tatsache, dass die Merkfähigkeit beim ganz normalen Altern abnimmt. Wir haben an unserer Klinik den sogenannten Crook-Test eingeführt, mit dem Patienten überprüfen können, ob sich der Verlust ihrer Merkfähigkeit im normalen Rahmen bewegt oder ob eine Erkrankung dahintersteckt. Mit einem Computerprogramm werden die verbale Ausdrucksfähigkeit und die räumliche Vorstellungskraft getestet. Verschiedene Erkrankungen wie Alzheimer oder das sogenannte Korsakov-Syndrom als Folge von Alkoholmissbrauch können zu dramatischen Einbrüchen bei der Merkfähigkeit führen. Ebenso Durchblutungsstörungen der kleinen Gefäße im Gehirn, die eine Serie von Mini-Schlaganfällen auslösen. Mymed: Lässt sich der altersbedingte Verlust der Merkfähigkeit aufhalten oder zumindest verlangsamen? Deecke: Das Rezept heißt „Lebenslang lernen“. Es geht darum, das Gehirn ständig zu fordern, da es dadurch besser durchblutet wird und mehr Sauerstoff aufnimmt. Dabei ist es egal, ob man regelmäßig Kreuzworträtsel löst oder eine Fremdsprache lernt. Ein Medikament, das die Hirnleistung deutlich steigern kann, gibt es meines Wissens nicht. Am meisten belebend und inspirierend wirkt meiner Ansicht nach leichte Bewegung wie ein schneller Spaziergang an der frischen Luft. Mymed: Herr Professor, wir danken für das Gespräch!