Wie, warum und wann entstand die moderne Gesellschaft? Die Antworten auf diese Fragen fallen in der Regel leicht. Schnell sind Schlüsselbegriffe wie "Französische Revolution", "Machtergreifung des Bürgertums", "Industriekapitalismus" oder "Aufklärung" zur Hand. Der Sozialhistoriker Robert Schlesinger verblüfft nun mit einer ganz anderen Antwort: Die moderne Gesellschaft entstand, weil die Menschen ihren Gefühlshaushalt entscheidend umstellten, ja sich überhaupt erst als emotionale Wesen begriffen. Die Bedeutung, die Emotionen und emotionale Beziehungen für uns haben, entstand erst seit dem 18. Jahrhundert. Dass man Kinder liebt, um Verstorbene trauert und langjährige Partnerschaften auf sexuelle Attraktion und leidenschaftliche Gefühle aufbaut, ist nach Schlesinger Resultat jener von ihm so genannten Emotionalen Revolution, die nicht nur den Boden für zahlreiche gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen bereitete, sondern uns erst zu jenen individuell empfindenden, auf Intimität und Privatheit hin orientierten Wesen machte, als die wir uns bis heute sehen. Ausdruck und Motor dieser Entwicklung aber war - und vielleicht liegt erst darin die eigentliche Provokation dieses Buches - die große Oper des 19. Jahrhunderts. Das neunzehnte Jahrhundert - ähnlich wie für den britischen Historiker Eric Hobsbawm dauert dieses auch für Robert Schlesinger 150 Jahre: Von der Uraufführung von Mozarts Entführung aus dem Serail im Jahre 1782 bis zu jener von Puccinis Turandot im Jahre 1926. Mit Akribie und großem Kenntnisreichtum versucht Schlesinger nachzuweisen, dass die Opern dieser Epoche stets Gefühlsdramen gewesen sind, die weniger von den oft dürftigen Libretti als vielmehr von der emotionalen Intensität der Musik getragen wurden. Und die Musik eignet sich, weil sie imstande ist, beim Hörer Erwartungen aufzubauen und auch zu enttäuschen, Spannungen zu erzeugen und wieder aufzulösen, ganz vorzüglich nicht nur zur Darstellung, sondern überhaupt zur Erzeugung von Gefühlen. Die Oper, so könnte man sagen, ist die eigentliche Schule der Gefühle. So nebenbei räumt Schlesinger auch mit dem Vorurteil auf, dass die Oper eine Kunstform des Bürgertums gewesen sei - so wie die Emotionale Revolution, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, alle Schichten der Gesellschaft erfasste, ist auch die Oper dieses "langen Jahrhunderts" immer schon auf ein heterogenes Massenpublikum hin konzipiert gewesen. Die Grundthesen von Robert Schlesingers Emotionaler Revolution sind aufregend, und sie werden nicht nur auf Zustimmung stoßen. Dass die Analyse der Partituren von Richard Wagner mehr über den modernen Menschen in Erfahrung bringen kann als die Untersuchung politischer oder ökonomischer Prozesse, mag einen durchaus begrüßenswerten Streit über die Stellung der oft geschmähten Geisteswissenschaften nach sich ziehen; dass Menschen nicht zu allen Zeiten in gleicher Weise fühlen und empfinden, ist zwar nicht unbedingt ein Novum, aber es wurde selten so explizit gemacht wie bei Robert Schlesinger. Vielleicht aber liegt die größte Herausforderung dieses mit viel Engagement geschriebenen Buches in der Schlussthese: dass die "neue Musik", die Oper des kurzen 20. Jahrhunderts, ein Rand-und Schattendasein führen muss, weil sie durch Atonalität, Dodekaphonie und Serialität darauf verzichtet, die Emotionen der Menschen zu erreichen. Es ist nicht die von Avantgardisten viel beklagte ästhetische Rückständigkeit, die in allen Opernhäusern der Welt Mozart, Verdi, Wagner und Puccini dominieren lässt, sondern diese Komponisten sind allemal die eigentlich zeitgemäßen, weil wir unseren Gefühlshaushalt noch immer nach jenen Gesichtspunkten regulieren, die von der emotionalen Revolution und durch die Oper konfiguriert worden sind. ( Von Konrad Paul Liessmann - DER STANDARD, Album, Sa./So., 1./2.12.2001)