Respekt vor Menschenrechten ist keine Frage der "Kulturen"
Warum in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 11.
September und deren Folgewirkungen Samuel Huntingtons These
vom "Clash of Civilisations" in die Irre führt.
,
Vor zehn Jahren behauptete Samuel Huntington, dass die Konflikte der Weltpolitik
nach dem Ende des Kalten Kriegs primär kulturell bedingt seien und prognostizierte
einen "clash of civilizations", basierend auf der Unvereinbarkeit von fünf oder sechs
Kulturkreisen, die zwar koexistieren jedoch niemals, in Ermangelung gemeinsamer
Werte, konvergieren könnten.
Diese Argumentation impliziert in bezug auf die Ereignisse des 11. September zwei
Schlussfolgerungen. Erstens: Die Terrorangriffe und die von den USA angeführten
Gegenschläge sind Ausdruck des Kulturkampfs zwischen dem Islam und dem
Westen. Zweitens: Die universellen Menschenrechte sind nur eine Hervorbringung der
europäischen Kultur und daher in Gesellschaften, denen diese Traditionen fremd
sind, nicht anwendbar.
Meiner Meinung nach irrt Huntington in beiden Punkten. Sir Vidiadhar S. Naipaul, der
vor kurzem den Nobelpreis für Literatur erhielt, schrieb einmal einen Artikel unter dem
Titel "Our Universal Civilization". Wie treffend. Naipaul ist indischer Abstammung und
in Trinidad aufgewachsen. Er erklärte in diesem Text, nicht nur dass die westlichen
Werte zu allen Kulturen passen, sondern auch dass er seine literarischen Leistungen
genau jener Universalität verdanke, die entsteht, wenn man Huntingtons vermeintliche
kulturelle Grenzen überschreitet.
Universalität ist auch in einem weiteren Sinn des Wortes anwendbar, da die treibende
Urkraft der Menschheit und der Weltpolitik nicht die kulturelle Vielfalt, sondern die alle
betreffende Modernisierung ist, die sich als liberale Demokratie und soziale
Marktwirtschaft institutionell manifestiert. Der gegenwärtige Konflikt ist keineswegs
Ausdruck eines Kulturkampfs im Sinne einer Auseinandersetzung zwischen zwei
gleichrangigen Kulturzonen; er ist vielmehr symptomatisch für eine nach rückwärts
gerichtete Handeln jener, die sich von der Modernisierung - und damit auch von deren
ethischer Komponente, der Respektierung der Menschenrechte - bedroht fühlen.
Im Grunde basiert(e) jedes Recht auf einer von drei Autoritäten: Gott, Mensch oder
Natur. Die Auffassung von Gott bzw. der Religion als Urquelle jeden Rechts, wird im
Westen seit der Aufklärung abgelehnt. John Locke eröffnet seine große
philosophische Abhandlung Two Treatises of Government mit einem langen Traktat
gegen Robert Filmers Verteidigung des Königsrechts von Gottes Gnaden. Mit anderen
Worten, die säkulare Rechtsauffassung des Westens entspringt in den Anfängen der
liberalen Tradition.
Genau hier verläuft offenbar auch heute die entscheidende Trennlinie zwischen dem
Islam und dem Westen, da viele Muslime den säkularen Staat ablehnen. Bevor wir
jedoch daraus einen unaufhaltsamen "Clash of Civilisations" ableiten, sollten wir
darüber nachdenken, wieso der säkulare Liberalismus sich zuerst im Westen
durchgesetzt hat. Es ist kein Zufall, dass liberale Ideen im 16. und 17. Jahrhundert
auftauchten, als die blutigen Auseinandersetzungen christlicher Religionsgruppen in
Europa zeigten, wie aussichtslos es ist, einen religiösen Konsens als Basis für
weltliche Herrschaftsstrukturen zu finden.
Dass Hobbes, Locke und Montesquieu u.a. angesichts des Horrors des
Dreißigjährigen Krieges die Forderung erhoben, Kirche und Staat zu trennen, geschah
auch und nicht zuletzt im Interesse eines zivilen Friedens.
Der Islam steht nun vor einem ähnlichen Dilemma. Bestrebungen, Politik und Religion
zu vereinen, spalten die Muslime ebenso wie das seinerzeit bei den Christen in
Europa der Fall war. Unsere Politiker haben daher Recht, wenn sie immer wieder
betonen, dass es sich nicht um einen Konflikt mit dem Islam handelt - einer extrem
heterogenen Religion, die autoritäre Glaubensauslegungen nicht akzeptiert. Für
Intoleranz und Fundamentalismus mögen sich zwar einige Muslime entscheiden, der
Islam aber setzte sich seit jeher mit der Frage des Laizismus und den Werten
religiöser Toleranz auseinander, wie die anhaltenden Reformbestrebungen im
theokratischen Iran belegen.
Die zweite Quelle von Rechten - im Sinne der positivistischen Auffassung, wonach
Recht ist, was immer eine Gesellschaft über gewisse konstitutionelle Einrichtungen
zum Recht erklärt - garantiert ebenso wenig liberale Strömungen, sondern mündet in
kulturellen Relativismus. Wenn, wie Huntington impliziert, die Rechte, die wir im
Westen einfordern, allein auf die politische Krise des europäischen Christentums
nach Luthers Reformation zurückzuführen sind, was kann andere Gesellschaften
davon abhalten, diese Rechte unter Berufung auf ihre jeweils eigenen Traditionen
abzulehnen?
Bleibt schließlich noch die dritte Quelle von Rechten - die Natur: Die Sprache des
Naturrechts - vor allem im Amerika des 18. Jahrhunderts überzeugend
weiterentwickelt - prägt in der Tat nach wie vor unseren ethischen Diskurs. Wenn wir
zum Beispiel sagen, dass Rasse, Ethnie, soziale Herkunft, Geschlecht nicht
essentielle Merkmale der Menschen sind, dann sagen wir damit offensichtlich, dass
es ein Substrat des "Menschseins" gibt, das uns allen das Recht auf gleichen Schutz
vor Übergriffen anderer Gruppen oder Staaten zugesteht.
Und diese Überzeugung verbietet uns auch, bestimmte Gruppen der Gesellschaft aus
kulturellen Gründen zu diskriminieren oder zu unterdrücken, wie zum Beispiel Frauen.
Darüber hinaus beweist die Errichtung demokratischer Institutionen in Gesellschaften
mit nichteuropäischen Traditionen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts,
dass wir im Westen mit dieser Überzeugung nicht alleine stehen.
Wenn die Menschenrechte aber tatsächlich universell sind, sollten wir ihre Umsetzung
dann nicht zu jeder Zeit und überall auf der Welt fordern? - Aristoteles stellt in seiner
Nikomachischen Ethik fest, dass es Naturgesetze der Gerechtigkeit gibt, ihre
Anwendung jedoch Flexibilität und Besonnenheit voraussetze. Und diese Einsicht hat
auch heute noch Gültigkeit: Wir müssen zwischen der Theorie universeller
Menschenrechte und der Praxis ihrer weltweiten Durchsetzung unterscheiden, da
unsere Auffassung von Menschlichkeit und Recht in verschiedenen sozialen
Strukturen jeweils unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen wird.
In vielen traditionellen Zivilisationen, wo die Möglichkeiten einer eigenen
Lebensplanung beschränkt sind, stößt das individualistische Rechtsverständnis des
Westens auf großen Widerstand. Wahr ist, dass es vom Modernisierungsprozess
nicht abgekoppelt werden kann. Andernfalls würde man den Wagen vor das Pferd
spannen. Unsere Verpflichtung, dieses gemeinsame Ideal und die Einlösung solcher
Rechtsgarantien zu unterstützen, ist ein Teil des Fortschritts, von dem andere
Elemente, die eine moderne Gesellschaft ausmachen - wie Demokratie und soziale
Gerechtigkeit -, nicht wegzudenken sind.
Francis Fukuyama* - DER STANDARD, Print, Sa./So., 1./2.12.2001)
Forum:
Ihre Meinung zählt.
Die Kommentare im Forum geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.
Die Redaktion behält sich vor, Kommentare, welche straf- oder zivilrechtliche Normen verletzen,
den guten Sitten widersprechen oder sonst dem Ansehen des Mediums zuwiderlaufen
(siehe ausführliche Forenregeln),
zu entfernen. Benutzer:innen können diesfalls keine Ansprüche stellen.
Weiters behält sich die STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. vor, Schadenersatzansprüche
geltend zu machen und strafrechtlich relevante Tatbestände zur Anzeige zu bringen.