Wien - Ohne die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten (GUS) hätte der Zerfall der Sowjetunion möglicherweise
ähnlich wie in Jugoslawien zu einem Krieg geführt. "Es ist das große
Verdienst der GUS, dass es zu einer friedlichen Scheidung der
Republiken kam", meint der Osteuropa-Experte Heinz Timmermann von der
Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik im Gespräch. Für den Buchautor und Russland-Kenner Wolfgang Leonhard war der
Untergang der Sowjetunion bereits im Jahr 1956 mit der Abrechnung von
Nikita Chruschtschows mit dem Stalinismus besiegelt.
"Ein simpler Zerfall der Sowjetunion hätte viel schlimmer
gewirkt", ist Timmermann überzeugt. "Gekocht" habe es nämlich Anfang
der neunziger Jahre bereits in verschiedenen Teilen der Sowjetunion,
etwa zwischen Armenien und Aserbaidschan oder in der Ostukraine. Der
"Konsultationsklub der Staatsoberhäupter" GUS habe den Bürgern das
Gefühl gegeben, dass zumindest eine Wirtschaftsgemeinschaft erhalten
bleiben würde.
"Äußerst
wenige" Integrationsfortschritte
Dies war aber nicht der Fall. In den zehn Jahren seit der
Proklamation der GUS am 8. Dezember 1991 durch die Präsidenten
Russlands, Weißrusslands und der Ukraine bei Brest habe es "äußerst
wenige" Integrationsfortschritte gegeben, meint Leonhard. Die GUS sei
"das Lockerste, was man sich überhaupt vorstellen kann". Bei den
Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter habe es bisher "überhaupt keine
Beschlüsse gegeben, die von allen Staaten geteilt werden". Auch
Timmermann weist darauf hin, dass zwar "über 1000 Abkommen"
unterzeichnet worden seien, allerdings jeweils im Bewusstsein, dass
sie nie umgesetzt würden.
Nach Meinung beider Experten wird sich dies in absehbarer Zeit
auch nicht ändern. Weder werde es zu einer Vertiefung der Integration
kommen, noch werde die GUS zerfallen. Nachdem sie zunächst ihre
Eigenständigkeit betonten, hätten die GUS-Staaten in den letzten fünf
Jahren erkannt, dass die wirtschaftliche und sicherheitspolitische
Zusammenarbeit auch positive Aspekte habe, meint Leonhard. Allerdings
sei das Trauma der Vorherrschaft Moskaus in den ehemaligen
Sowjetrepubliken immer noch stark, ebenso wie die Unterschiede
zwischen den einzelnen wirtschaftlichen und politischen Systemen. In
der GUS seien "funktionierende Demokratien wie die Ukraine mit
diktatorischen Systemen wie Turkmenien" vereint.
"Prozess der Regionalisierung"
Allerdings zeichnet sich nach Meinung Timmermanns innerhalb der
GUS ein "Prozess der Regionalisierung" ab. So gebe es die Union
zwischen Russland und Weißrussland, den Kollektiven
Sicherheitsvertrag von Taschkent und die Kooperation zwischen
Georgien, der Ukraine, Usbekistan, Aserbeidschan und Moldawien
(GUUAM) als Gegengruppe zu Russland. Mit diesen bilateralen
Vereinbarungen sei leichter eine "ökonomische Durchdringung" zu
erreichen.
Der heutige russische Präsident Wladimir Putin handle in Bezug auf
die GUS-Staaten "rationaler und pragmatischer" als sein Vorgänger
Boris Jelzin, glaubt Timmermann. Jelzin habe nämlich oft "große
Sprüche über die Bruderschaft und wirtschaftliche Versprechungen
gemacht", sie aber nicht einhalten können. Putin stellte hingegen
klar, dass Russland nicht länger einen "ökonomischen und politischen
Preis" für den Erhalt der GUS zu zahlen bereit sei. Das "nähere
Ausland" stehe nicht mehr an der Spitze der Prioritäten der
russischen Außenpolitik. Auch Leonhard lobt den "Realitätssinn"
Putins. Er vertrete zwar die russischen Großmachtinteressen, trage
diese gegenüber den GUS-Partnern aber "äußerst vorsichtig" vor.
Zerfall der
Sowjetunion letztlich unvermeidbar
Timmermann und Leonhard stimmen überein, dass der Zerfall der
Sowjetunion letztlich unvermeidbar war. Nach Meinung Leonhards wäre
er nur zu verhindern gewesen, wenn man schon im Jahr 1956 den
Teilrepubliken mehr Macht gewährt hätte. Das Verhalten der
wichtigsten Akteure während des Zerfallsprozesses - der sowjetische
Präsident Michail Gorbatschow und Jelzin - , sei dagegen "nur von
mikroskopischer Bedeutung" gewesen. Timmermann glaubt hingegen, dass
es noch Ende der achtziger Jahre Chancen für den Erhalt des
gemeinsamen Staates gegeben hätte, wenn Gorbatschow damals einer
losen Konföderation zugestimmt hätte. Danach sei "der Zug aber
unaufhaltsam in Richtung Unabhängigkeit" gefahren.
Der "entscheidende Anstoß" für den Zerfall der Sowjetunion sei das
ukrainische Unabhängigkeitsreferendum Anfang Dezember gewesen, das
"haushoch" für die Unabhängigkeit endete. (APA)