von Ronald Pohl
Bei der Ausbildung eines persönlichen Literaturgeschmacks spielen bekanntlich Vorlieben eine Rolle, die dem Lesefuchs vor Publikum eine Kennerschaft sichern sollen, die dann kein anderer mit listigem Nachfragen traktiert. Denn auch der verdienstvolle Versuch des Nachrichtenmagazins "profil", in seiner aktuellen Ausgabe der Lesegesinnung seines Publikums mit der Erstellung eines fünfzig Punkte umfassenden Literatur-"Kanons" aufzuhelfen, fördert Ergebnisse zutage, die, der geduldigen Papierform nach, einer profitablen Ignoranz mit symbolischer Wertschöpfung begegnen. Homer gewinnt also mit dem Gesang über Odysseus nach Noten. Der alte Geheimrat humpelt hingegen mit seinen beiden "Fäusten" hinterher: Man muss hierbei wohl vom Stefan-Eberharter-Syndrom sprechen. Goethe kann seine Hoffnungen auf die oberste Treppchenstufe absehbar nur darauf gründen, dass Homer mit seiner Viertelliter-Maschine, auf einer Kykladen-Insel über Land brausend, irgendwann ins Schleudern gerät. (Der Mann ist ja stockblind!) Bronze geht in der Lindengasse an den Italiener Dante Alighieri. Dahinter, auf den Rängen, das blanke Chaos: Der alte Fjodor humpelt mit "Verbrechen und Strafe", das man früher unter dem erhebenden Titel "Schuld und Sühne" irgendwie glühohriger las, als Achter ins Ziel und hängt damit Ovid und dessen "Metamorphosen" noch einmal ab. Aber wie schrieb Thomas Kapielski so trefflich? - "Je dickens, destojewskij!"
Nun drückt sich in dem Bedürfnis nach literarischer Besitzstandswahrung ein Unbehagen aus. Literatur, so ihre Autorität nicht von der Annahme einer blinden Offenbarung zehrt, webt kraft der Verwendung sprachlicher Zeichen an einem hauchfeinen Netz von Verweisen. Ihre Zeichenlogik gründet auf Erweiterung: Schon um das Verhältnis von einem Text zu einem anderen zu bestimmen, bedarf derjenige, welcher die Relation verstehend herstellt, eines weiteren Textes: Sein Verstehen ist dann jener Text, um den sich auch der Kanon entsprechend erweitert.


Stilles Wuchern

Die wertschätzende Anteilnahme an der Literatur steht somit vor dem Dilemma, den ihr lieben Gegenstand nach allen Seiten bedrohlich auswachsen zu sehen. Tatsächlich wird der Leser von "Madame Bovary" nur dann Genuss erlangen, wenn er sich in Balzacs "Menschlicher Komödie bereits vorher verstehend umgetan hat - oder wenn er wenigstens rhetorisch gelobt, es im Herbst seines Lebens, wenn ihn die Enkel umschmeicheln, auf der Ofenbank sitzend zu tun.
Andernfalls dient die Festschreibung eines Kanons nur der impliziten Konkurrenzlogik: einer auf Wettbewerb gnadenlos gegründeten Wissensgesellschaft. Als Kulturtechniker huldigt der Leser ausnahmslos wichtiger Bücher den Geboten von Training und Effizienz: Während der Computer die angeblich unüberschaubare Menge an Wissen binär tranchiert - werden wir immer schon alles gewusst haben. Für die Pracht der Poesie ist es dann schon zu spät.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.11. 2001)