EU
Alte Ängste, neue Chancen
In Polen wird eine intensive Debatte über Erweiterung und Identität geführt - DER STANDARD mit einer Zusammenschau
Krakau/Wien - Staatspräsident
Aleksander Kwa´sniewski und
Regierungschef Leszek Miller,
beides Postkommunisten, halten die EU-Fahne hoch, die am
hinteren Zipfel von den Führern der oppositionellen nationalkatholischen "Liga der
polnischen Familien" angezündet wird. So sieht das Warschauer Wochenmagazin
Wprost ("Geradeaus") auf der
Titelseite seiner jüngsten
Ausgabe die aktuelle Lage.
Die neue Linksregierung signalisiert in besonders sensiblen Fragen wie dem Landverkauf an Ausländer oder der
Öffnung des Arbeitsmarkts
Einlenken gegenüber Brüssel.
Das hat die Auseinandersetzung um einen möglichen
Verlust nationaler Identität
verschärft. Dabei ist das für
Polen besonders kritische Kapitel Landwirtschaft noch
nicht einmal geöffnet.
Grazer Großprojekt
Um die Frage nationaler
und anderer Identitäten im
Kontext der EU-Erweiterung
ging es am Wochenende in einer internationalen Konferenz
an der Jagiellonen-Universität
der alten polnischen Königsstadt Krakau in Kooperation
mit dem "Spezialforschungsbereich Moderne" der Universität Graz. In diesem einzigen geisteswissenschaftlichen
Spezialforschungsbereich in
Österreich befassen sich seit
sieben Jahren rund 40 Wissenschafter und Studenten
unter anderem mit den gesellschaftlichen Veränderungen
im eigenen Land und bei den
Nachbarn.
Mitveranstalter in Krakau
war das Österreichische Generalkonsulat. Dessen Chef
Ernst-Peter Brezovszky sah in
dem schon länger geplanten
Symposium eine Chance, ein
Signal im Sinne der von Österreich lancierten "regionalen
Partnerschaft" mit den ostmitteleuropäischen EU-Kandidaten zu setzen.
Hohes Maß an Zustimmung
Andrzej Golas, der Stadtpräsident von Krakau, traf
gleich zu Beginn den Punkt
mit der Feststellung, dass
"diese so polnische und
gleichzeitig so europäische
Stadt" der beste Ort sei, alte
Ängste zu überwinden. Wie
zur Bestätigung weist das von
Wprost veröffentlichte jüngste
"Eurobarometer" der Wojewodschaft Kleinpolen, deren
Zentrum Krakau ist, mit mehr
als 80 Prozent von allen polnischen Regionen das höchste
Maß an Zustimmung zur EU
aus. Dass dabei auch die frühere Zugehörigkeit zum
Habsburger Vielvölkerstaat
eine Rolle spielt, ist vermutlich keine ganz falsche Vermutung.
Weitgehende Übereinstimmung herrschte bei dem Symposium darin, dass es in einem
sich erweiternden Europa, in
einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft, in
Zeiten der Globalisierung wie
auch angesichts der Migrationsströme keine singuläre
Identität mehr gebe, sondern
nur mehrere Identitäten - abhängig von Bildung, sozialer
Lage, nationaler und Gruppenzugehörigkeit.
Ein aufschlussreiches Beispiel erläuterte Heinz Fassmann vom Institut für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung der
Universität Wien. Die polnischen "Zeitwanderer", die zu
Tausenden in Wien arbeiten
(viele von ihnen offiziell als
Touristen) und meist aus
Südpolen kommen, stellen für
Fassmann den neuen Typus
der "transnationalen Mobilen"
dar. Sie zeichnen sich meist
durch gute fachliche Qualifikation aus, wollen mit ihrer
befristet angelegten Arbeit im
Ausland ein materielles Ziel
erreichen und finden am Arbeitsort ein ethnisches Netzwerk als eine Art sozialer Sicherheit vor. Im Fall der
"Wiener" Polen sind das etwa
die Veranstaltungen der Polnischen Kirche, die laut Fassmanns Untersuchungen von
rund 80 Prozent der "Zeitwanderer" besucht werden.
Wachsende Bindestrich-Identität
Fassmann spricht von einer
"wachsenden Bindestrich-Identität" dieser Polen in Österreich, die sie zu "perfekten
Mittlern zwischen den Kulturen" mache. Offen bleibt dabei
allerdings, warum die Polen
bei den Österreichern in Umfragen nach wie vor so
schlecht wegkommen.
Vielleicht liegt es daran,
dass das herkömmliche Integrationsmodell, nämlich die
Assimilierung, bei den Zeitwanderern nicht funktioniert
(weshalb auch die Interessenvertretung sowohl im "Gastland" als auch in der Heimat
schwierig ist). Ob es sich bei
dieser "zirkulären Mobilität"
nur um eine Übergangsform
zur klassischen Auswanderung handelt, lässt sich laut
Fassmann derzeit jedenfalls
nicht sagen.
Identitätsverlust
Dass Ängste vor Identitätsverlust nicht nur in betont nationalen Kreisen vorhanden
sind (und auch geschürt werden), machte eine Frage des
polnischen Ombudmannes
und renommierten Juristen
Andrzej Zoll deutlich: "Opfern wir etwas von unserer
Identität für eine gewisse politische Korrektheit?", fragte der
ehemalige Höchstrichter in
der öffentlichen Podiumsdiskussion am Samstagabend unter Hinweis auf die EU-Grundrechtscharta, aus der etwa die
Frage der Religionen mangels
Konsens ausgeklammert wurde.
Monopol gegen Böses?
Eine Antwort hatte schon
zuvor der Krakauer Soziologe
Hieronim Kubiak versucht, als
er Wege zur Überwindung nationaler Angstpsychosen
zeichnete: Zweifel an sich heranlassen, sich selbst mit den
Augen der anderen sehen.
"Kein Volk hat das Monopol
gegen das Böse", meinte Kubiak unter Anspielung auf Polens leidvolle Geschichte.
Früher habe es bei Konflikten
zwischen Nationen Sieger
und Verlierer gegeben, aus der
EU-Erweiterung aber könnten
alle Beteiligten Nutzen ziehen. Wie es der Grazer Soziologe Karl Acham schon in seinem Eröffnungsvortrag formuliert hatte: Die Differenzierung werde das Organisationsprinzip des künftigen Europa
sein. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 27.11.2001)