Gerade als die Bevölkerung von Kundus sich auf die erste Nacht des Friedens nach zwei Wochen der Belagerung vorbereiten wollte, gab es eine tödliche Überraschung. Aus unbekanntem Grund beschossen US-Kampfflugzeuge "Kunakala" - die alte Sandfestung im Zentrum von Kundus. Wenige Stunden zuvor waren rund 700 usbekische Kämpfer der Nordallianz triumphal in Kundus eingezogen. Es war das erste Mal seit der Belagerung von Kundus, dass Kämpfer der Allianz die Stadt betraten. Am frühen Sonntagnachmittag hatten die usbekischen Truppen von General Rashid Dostum grünes Licht für den Einmarsch erhalten. Die Kämpfer bewegten sich langsam mit ihren Panzern, Jeeps und Pick-ups in die von den Taliban kontrollierten Gebiete vorwärts und nahmen Positionen entlang der Hauptstraßen und in der Festung ein. Nach dem Kapitulationsübereinkommen, das mühsam mit der Taliban-Führung in der Stadt ausgearbeitet worden war, mussten die usbekischen Truppen die Sicherheit in den Straßen garantieren und Plünderungen oder Massaker an der Bevölkerung Kundus' verhindern. Die Taliban hatten sich dazu verpflichtet, die Waffen abzugeben und sich an bestimmten Plätzen außerhalb der Stadt zu sammeln. Irgendetwas ging jedoch schief. Es kam zu einigen Kämpfen, es gab Tote und Verletzte, aber niemand kann genaue Zahlen nennen. "Die gestrige Nacht war höllisch", sagt ein Einwohner von Kundus. "Es war zeitweilig völlig unklar, wer gegen wen kämpfte". Ein weiteres Problem

Während die Führer in der Nordallianz herauszufinden versuchen, was das amerikanische Bombardement ausgelöst haben kann und ob interne ethnische Rivalitäten unter den Generälen der Allianz damit in Zusammenhang gebracht werden können, bringt die Bevölkerung von Kundus ein weiteres beunruhigendes Problem aufs Tapet. Während der "Befreiungsnacht", kurz vor und nach dem amerikanischen Beschuss von Kundus, sollen ungefähr 25 fremde Flugzeuge - aller Wahrscheinlichkeit nach pakistanische - am Flughafen von Kundus gelandet sein und Hunderte fremder Tali_ban evakuiert haben. War diese Evakuierung Teil des Kapitulationsübereinkommens? Haben die Führer in der Nordallianz der "Abreise" der Taliban zugestimmt, um Blutvergießen in Kundus zu verhindern? Wissen die Amerikaner von der Abreise? Niemand kann diese Fragen beantworten. Ein älterer paschtunischer Ladeninhaber erzählt: "Gestern waren die Fremden noch hier in der Stadt, jetzt sind sie alle verschwunden." Im Zentrum des "Tchau Kundus", dem Hauptplatz von Kundus, weht die grün-weiß- schwarze Fahne der Islamischen Republik von Afghanistan über der Polizeistation. Hunderte Einwohner versammeln sich hier, um den ersten Tag der Freiheit vom Taliban-Regime zu feiern. Jemand schaltet ein Radio ein, und als eine Frauenstimme zu hören ist, brechen alle in lautes Gelächter aus. Es ist jedoch nicht jedermann zum Feiern zumute. Die meisten Paschtunen, die den Großteil der Bevölkerung von Kundus stellen, bleiben zu Hause. Sie gehören der gleichen ethnischen Gruppe an wie die Taliban und fürchten Vergeltung. Die meisten Läden sind geschlossen. Nur in wenigen Holzbuden wird Gemüse, Brot und Weizen verkauft. "Während der letzten Tage der Belagerung haben die Taliban alle unsere Nahrungsvorräte konfisziert und sie den Paschtunen gegeben, als man die Nahrungsmittelverknappung zu spüren begann", sagt Muhammed, ein iranischer Ladeninhaber, der seit 14 Jahren in Kundus lebt. Die Stimmung im befreiten Kundus ist immer noch sehr angespannt und nervös. Immer wieder hört man Schüsse und Explosionen. "Willkommen in Kundus", sagt ein junger Mann. "Wir sind sehr glücklich, dass ihr hergekommen seid, und wir danken den USA, dass sie uns geholfen haben. Aber bitte verlasst die Stadt so bald wie möglich wieder. Die Taliban haben jedem, der einen ausländischen Journalisten umbringt, 50.000 Dollar versprochen. Und es gibt hier viele Verrückte in der Gegend." (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 27.11.2001)