Ralf Rothmanns Erzählungen sind ein bisschen wie die berühmten Gemälde von Gerhard Richter, auf denen alles bewusst unscharf gehalten ist. Es ist nicht so, dass Rothmann etwas verschleiern würde. Im Gegenteil, seine Geschichten sind sehr klar und einfach geschrieben, relativ unspektakulär und auch meist fest im Alltag verhaftet. Auf den ersten Blick gibt es nichts, was man nicht verstehen würde. Und trotzdem bleibt eine gewisse Unschärfe zurück, eine Irritation, die wächst und wächst, je länger es her ist, dass man das Buch gelesen hat. Das merkt man auch daran, wie schwer es einem fällt, seine Geschichten wiederzugeben. Der 48-jährige Autor erzählt davon, wie brüchig unsere sicheren Leben voller Routine letztendlich sind. Hinter jeder Geschichte liegt etwas auf der Lauer, die Kunst des Erzählens von Ralf Rothmann liegt darin, aus dem Herzen der Ambivalenz zu senden. Im Erzählband Ein Winter unter Hirschen blicken Menschen zurück und erinnern sich, wie das damals war, als sich etwas veränderte im Leben, oder manchmal nur, als plötzlich die Möglichkeit eines Umbruchs aufblitzte. In fast jeden Text sind Liebesgeschichten eingeflochten, mehr oder minder versteckt, mehr oder minder vergeblich. Allen Erzählern ist gemeinsam, dass sie mehr über sich preisgeben, als sie eigentlich von sich wissen. Im Grunde erzählt Rothmann über Leerstellen, über das, worüber man nicht reden kann, was sich aber plötzlich anderswo manifestiert. In "Erleuchtung durch Fußball" plagt sich ein Mann mit den Ansprüchen seiner Frau und Tochter. Er geht spazieren, sieht in die wohl situierten Häuser der Nachbarschaft und bekommt mulmige Gedanken dabei, wie viel Schulden er machen muss, um den Lebensstandard seiner Familie halten zu können. Beruflich geht es nicht schlecht voran, wenn auch etwas langsam. Als Drucker ist er abhängig von den "jungen Beißern", von jenen, die, weil sie auf ihrem Computer alles können, auch meinen, im Leben alles zu können. Und sogar Recht damit haben. Zu Hause, seine Frau schläft schon, schaut er noch ein bisschen fern. Fußball. Ein ödes Spiel, Kiew, der sichere Pokalanwärter, gegen Athen, den sicheren Loser. Viel Verzögerung, keiner rechnet mehr mit etwas. Bis ein junger Stürmer einen verzweifelten Versuch startet, auf den Ball lostritt, und der völlig im regnerischen Nachthimmel verschwindet, um dann doch, zur Verwunderung aller, im Tor zu landen. Rothmanns Sympathie gehört diesen Losern, mit denen niemand rechnet, am wenigsten sie selbst. Seine Figuren sind wortkarg, neigen zur Melancholie, auch wenn sie das selbst nicht so sehen würden. Die meisten macht der Alltag fertig, der seltsame Routinehandlungen oder gar Gräben hat entstehen lassen. Ein altes Ehepaar praktiziert seine einsame sonntägliche Sexroutine. Ein Paar trennt sich, und trifft sich nur mehr geschützt in einer Runde von Freunden, die als Bodyguards herhalten müssen, wenn es darum geht, den gemeinsamen Hausstand aufzuteilen. Irene meint, Matze könne Amok laufen. Dabei ist klar, wenn Matze Amok läuft, dann nur gegen sich selbst. Trotzdem sind die Geschichten von Rothmann in letzter Konsequenz nicht deprimierend, weil plötzlich doch Bewegung ins Spiel kommt. Sie haben Ausgänge aus der Enge und wollen sogar tröstlich sein. Irene kommt mitten in den Umzugswirren jemandem näher, den sie schon länger aus der Arbeit kennt. Rothmann sagt selbst, dass seine "brachialkatholische" Erziehung durchschlägt, die seine Figuren nach einer Verankerung suchen lässt, die sie angenehmerweise in ganz Unspektakulärem finden. Die kleinen Alltagswunder sind banal, wie, dass ein Mann völlig unerklärlich fasziniert ist, von einem Hund, der unglaublich stoisch ist. Der Journalist Elmar Krekeler hat Rothmanns Stil einmal treffend "Metaphysischen Realismus" genannt. Ralf Rothmann, in Schleswig geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen, wo die meisten seiner bisherigen Romane spielen (zuletzt: Milch und Kohle über eine Jugend im Ruhrpott), lebt seit 1976 in Berlin. Mit Ein Winter unter Hirschen, das in Berlin handelt, ist er nun auch schreibend dort angekommen. Sonst ist er ziemlich einzigartig in der deutschen Literaturszene: Rothmann ist ein Humanist, der nicht penetrant ist, ein Metaphysiker, der das Understatement liebt, ein Realist, der dem Realismus misstraut. (Von Karin Cerny - DER STANDARD, Album, Sa./So., 24./25.11.2001)