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Willy Brandt ist neun Jahre nach seinem Tod noch immer eine omnipräsente Figur bei den deutschen Sozialdemokraten. Auch auf dem derzeit stattfindenden Parteitag in Nürnberg wird immer wieder Brandt zitiert. Brandt hat Tausende Seiten Manuskript hinterlassen. An der Erschließung seines Nachlasses ist Gregor Schöllgen beteiligt, der die jüngste und zugleich kritischste Biografie - mit bisher unveröffentlichten Dokumenten - über Brandt geschrieben hat. Der Universitätsprofessor für Neuere Geschichte zeigt am deutlichsten Brandts Schwächen auf. So schildert der damalige Kanzleramtschef Horst Ehmke, wie er den Kanzler, der angeblich grippekrank war, tatsächlich aber seit Tagen depressiv im Bett lag, 1972 "mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern" wachrüttelte: "Willy, aufstehen, wir müssen regieren." Schöllgens Buch sorgte bereits für Diskussionen, vor allem seine Aussage, Brandt sei selbstmordgefährdet gewesen. Tatsächlich lässt Schöllgen in seiner Charakterstudie nichts aus: Brandts Hang zum Trinken, seine Abhängigkeit als Kettenraucher, seine "amourösen Affären". Wiederholt beschreibt er Brandt als "konfliktscheu", zeigt sein Scheitern im persönlichen und politischen Bereich wie seinen Rücktritt als Kanzler 1974 im Zuge der Guillaume-Affäre. Breiten Raum nimmt auch die Exilzeit ein. Schöllgen schreibt dabei auch über Brandts Beziehung zu Bruno Kreisky, laut Schöllgen "eine der wichtigsten politischen Freundschaften" für Brandt. Insgesamt ist eine kritische Biografie entstanden, die keineswegs eine Abrechnung ist, sondern den Menschen Brandt näher bringt. "Die Schwächen Willy Brandts waren seine Stärke", so das treffende Fazit des Autors. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 11. 2001)