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Als sich im 15. Jahrhundert der Buchdruck in Europa durchsetzte, musste er sich gegen die Kultur der mündlichen Rede behaupten. Diese schien zunächst die Oberhand zu behalten, denn sie bestimmte vielfach den Inhalt des neuen Mediums. Recht häufige Buchtypen waren in jener Zeit Rhetoriken und Anleitungen zur Verfeinerung der Gedächtniskunst – deren letzter großer Vertreter, Giordano Bruno, wurde 1600 wegen einer Buchpublikation verbrannt. Wir erleben heute etwas Ähnliches. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Medienwandel, das Ende des Gutenberg-Zeitalters wird landauf und landab verkündet – und das Internet präsentiert sich jedermann als universales "Buch der Bücher", in dem das Recherchieren, Bibliographieren und Bestellen von Büchern aus Bibliotheken oder Buchhandlungen eine Lust ist. Die untergehende Ära bestimmt damit wesentlich das Bild des neuen Mediums, und es hat seine Last damit, neue und eigene Inhalte zu entwickeln.

Die Schnittstelle zwischen der traditionellen Buchkultur und ihren Institutionen ist das Thema der Veröffentlichung von Christine Böhler. Literatur im Netz sammelt, hauptsächlich in Form von Reportagen und Interviews, Beispiele unterschiedlicher Publikationsstrategien. So erzeugen beispielsweise Rainald Goetz und Thomas Hettche im Internet einen Hype um Projekte, die letztlich als gedrucktes Buch vermarktet werden sollen. Das Internet ist hier eine Preview-Station und eine preiswerte Marketing-Maschine. Das Angebot elektronischer Fassungen von Büchern (E-Books) ist eine mit diesen Projekten verwandte Strategie. Zumindest im Bereich der fiktionalen Literatur scheint er allerdings am Publikum zu scheitern. Christine Böhler fasst nach einem Gespräch mit dem Geschäftsführer des französischen E-Book-Unternehmens 00h00.com, Pierre Arbon, ihre Skepsis in einer These zusammen: "Es ist nicht damit getan, das Buch ins E-Book zu transferieren. Aufgabe der Verlage und der Autoren ist es, mitzubestimmen und mitzugestalten, Experimentierfelder zu eröffnen und in größeren Zusammenhängen zu denken."

Die Eröffnung von literarischen Experimentierfeldern im digitalen Netz hat eine nun schon etwa zehnjährige Tradition. Das Buch beleuchtet verschiedene Formen: Hypertext-Literatur, Multimediakunst und kommunikative Netzinstallationen. Die zur Produktion dieser Formen erforderliche mediale Kompetenz ist so unterschiedlich wie ihre tatsächliche Nutzung des Netzes. Hypertexte sind ausschließlich Texte und werden auch auf CD-ROM vertrieben, während multimediale Netzinstallationen auf Inputs von Nutzern reagieren und nur im Internet funktionieren. Die Produktion solcher Werke ist häufig nur in Arbeitsteilung möglich – neben ideengebende Autoren treten Multimediaspezialisten und Programmierer. Christine Böhler weist in diesem Zusammenhang auf ein gravierendes Problem hin: Anspruchsvolle Produktionen und hohe Qualitätsstandards lassen sich nur erreichen, wenn professionell gearbeitet wird – und das ist nur möglich, wenn auch Geld mit den Produkten verdient wird. In dem Interview mit dem Wiener Multimedia-Duo "Ubermorgen.com", das auf der Website Voteauction.com den Verkauf von Wählerstimmen simulierte, wird überdies deutlich: Das Angebot an Fakten und Fiktionen verfehlt ohne ein solides ökonomisches Fundament und ohne geeignetes Marketing seine Interessenten und Nutzer im digitalen Netz.

Roberto Simanowskis Aufsatzsammlung in der Reihe text+kritik behandelt weniger die Herausforderung an alte und neue literarische Institutionen als vor allem die Schicksale der Literatur selbst. Der gemeinsame Zug der digitalen Literaturformen ist das Aufbrechen der über Jahrhunderte dominanten Organisationsprinzipien des künstlerischen Materials. Hypertexte sind nicht mehr linear organisiert, sondern bilden komplexe Gewebe. Die Nutzer vollziehen nicht mehr semantische Vorgaben der Autoren nach, sondern sind selbst aktiv an der Sinnfindung und damit an der Konstitution der "Werke" beteiligt.

Einige Beiträge der Sammlung suchen nach den Traditionslinien für digitale Literatur. Sie werden fündig bei Nabokov, Sterne und Oulipo (Kurt Fendt), bei Bense, Mon und der Konkreten Poesie (Friedrich W. Block), Gysin und Carroll (Florian Cramer). In der Tat scheint dem digitalen Medium die erzählende Literatur ferner zu liegen als eine, der die Materialeigenschaften der Sprache mindestens ebenso wichtig sind wie die Bedeutungen. Der einleitende Beitrag Simanowskis verdeutlicht, dass literarische Standards wie die Autorschaft und die lineare Erzählweise sich in den digitalen Umgebungen verflüchtigen. Für eine Definition des Neuen scheint ihm hingegen der Zeitpunkt noch zu früh.

Der überraschendste Beitrag des Heftes stammt von Robert Coover. Er formuliert die Weissagung: "Könnte es sein, daß Text selbst das abgenutzte Mittel einer sterbenden menschlichen Ära ist, eine notwendige Hilfe vielleicht in einer technisch primitiven Welt, aber eines, das den Benutzer immer von der Welt ferngehalten hat, in der er oder sie lebt, eine Art dickes, tintenbeschmiertes Transparent zwischen empfindungsfähigen Wesen in ihrer Realität? (. . .) Es kann sein, daß es das Image ist, nicht das Wort, das alle künftige kulturelle Kommunikation bestimmen wird, einschließlich der Literatur, insofern diese dann noch so genannt werden kann."

(Von Hermann Rotermund – DER STANDARD, Album, Sa./So. 17./18.11.2001)