Übertriebene Rücksicht auf österreichische Sorgen hat Tschechien in der Frage des Atomkraftwerks Temelín nie genommen. Dennoch besteht kein Grund zur Wehleidigkeit: Von Beginn an hat die Regierung in Prag klar gemacht, dass sie an ihrer Absicht, Temelín in Betrieb zu nehmen, festhalten will. Es hätte besserer Argumente als der Drohung mit der Veto-Keule bedurft, sie davon abzuhalten.

Die hat Österreich in der größeren europäischen Debatte bis heute offenbar nicht vorbringen können. Ganz offensichtlich hat sich unsere Regierung allzu fest darauf verlassen, dass die bloße EU-Mitgliedschaft als Ersatz für Sachargumente eingesetzt werden kann - eine spektakuläre Fehleinschätzung, wenn man den Berichten österreichischer Beamter in Brüssel glauben darf: Im Gegensatz zum EU-Mitglied Österreich hat das Noch-nicht-Mitglied Tschechien monatelang exzessives Lobbying betrieben und kaum einen Tag vergehen lassen, ohne der Kommission Unterlagen über die umfassende Sicherheit des AKWs auf den Tisch zu legen. Aus Österreich fand dagegen nicht einmal der Expertenbericht, der genau das Gegenteil festhält und erhebliche Sicherheitsmängel im AKW Temelín auflistet, den Weg zu den entscheidenden Instanzen. Stattdessen wurde alles getan, um das Bild eines in sich selbst zerrissenen Verhandlers zu verfestigen, der sein Versäumnis, sich nicht rechtzeitig um Unterstützung umgesehen zu haben, mit Blockadedrohungen kompensiert, die ihn endgültig zum isolierten Querulanten in der Union stempeln könnten. Österreich hat sich rasant vom Musterschüler zum Schmuddelkind der EU gewandelt.

Bis auf Frankreich, Finnland und Großbritannien hält kein EU-Staat mehr am Ausbau der Atomkraft fest. Es ist beinahe ein Kunststück, unter den restlichen Mitgliedsstaaten keinen Verbündeten für eine Argumentationslinie gefunden zu haben, die ohnehin im Mainstream der EU liegt. (derstandard,print-ausgabe,13.11.2001)