Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer bestreitet die Souveränität Tschechiens in der Frage Temelín. "Die Souveränität endet dann, wenn ein anderer Staat gefährdet wird", sagte die FPÖ-Chefin in der TV-"Pressestunde". Die Vetodrohung gegen den EU-Beitritt bleibe aufrecht. Wien - "Temelín ist nicht eine Koalitionsfrage oder Stilfrage oder diplomatische Frage, sondern eine Lebensfrage." Mit dieser Aussage bekräftigte die Vizekanzlerin die Drohung mit einem Veto eines EU-Beitritts Tschechiens im Fall eines Nichtausstiegs aus dem Kernkraftwerk Temelín. In der Frage der Energiepolitik "hört auch die Souveränität eines Staates auf", wenn ein anderer Staat dadurch gefährdet werde, begründete Riess-Passer die Haltung ihrer Partei. Umweltminister Wilhelm Molterer (ÖVP) hat zuletzt immer wieder darauf hingewiesen, dass jedes Land in der Energiefrage souverän sei. Auf die mehrmaligen Fragen von STANDARD-Chefredakteur Gerfried Sperl nach einem Ausstiegsszenario aus der verfahrenen Situation antwortete die Vizekanzlerin mit einem Redeschwall, in dem sie die grundsätzlichen Positionen ihrer Partei wiederholte. Als Regierung könne man der Bevölkerung nicht erklären, jetzt Temelín zuzulassen. Die "tschechische Seite muss wissen, dass es uns ernst ist. Ohne Ausstiegsszenario aus Temelín ist ein EU-Beitritt Tschechiens nicht denkbar." Ein Veto sei etwas Selbstverständliches zur Durchsetzung der Interessen eines Landes. Das Veto sei auch im EU-Vertrag für alle Fragen betreffend Einstimmigkeit vorgesehen. Den Einwand, dass dies bisher nur punktuell in Sachfragen und nicht beim EU-Beitritt eines ganzen Landes angewendet worden sei, versuchte Riess-Passer beiseite zu wischen. Mehrmals verwies die Vizekanzlerin darauf, dass im so genannten Melker Prozess auch die Nulloption enthalten sei. Die Tschechen dagegen erklärten, dass über die Nulloption nicht einmal geredet werde. "So kann es nicht sein." Riess-Passer forderte harte Verhandlungen, denn nur dann könne man etwas erreichen. Die Koalition werde an der Frage Temelín aber "nicht zerbrechen". Gleichzeitig betonte sie, dass "für mich das nicht nur eine Frage der Koalition ist, sondern auch eine nationale". Deswegen sei auch ein nationaler Konsens aller Parteien erforderlich. Riess-Passer forderte einen Schulterschluss aller politisch Verantwortlichen im Land. Zu zurückhaltenden Stimmen seitens der ÖVP merkte sie an, wenn der Kampf gegen Temelín ernst gemeint sei, müsse man auch konsequent sein und nicht das große "Fracksausen und Zittern kriegen, wenn einen ein paar Leitartikler kritisieren". Es gehe schließlich um eine ganz konkrete Gefährdung. Eine schriftliche Vereinbarung mit Tschechien habe nur dann einen Sinn, wenn Tschechien bereit sei, den "Ausstieg aus Temelín schriftlich zu garantieren". Riess-Passer verwies auch darauf, dass Tschechiens Staatspräsident Václav Havel die Befürwortung des Weiterbaus von Temelín als den größten Fehler seiner Amtszeit bezeichnet habe. Wenn man einen Irrtum erkannt habe, müsse man ehrlicherweise Wege suchen, den Irrtum zu revidieren und nicht auf dem Irrweg zu beharren. Generell gehe es um einen Ausstieg aus der Atomkraft in ganz Europa. Hier könne Österreich eine Führungsrolle spielen. Weniger beharrlich zeigte sich Riess-Passer in der Frage der Steuerreform. Angesichts des heurigen Nulldefizits sollte es "Entlastungen, wenn möglich schon 2002" geben. Langfristiges Ziel sei es, die Abgabenquote auf unter 40 Prozent zu bringen. Die Forderung der Pensionistenverbände nach 2,9 Prozent Inflationsabgeltung für alle Pensionisten lehnte Riess-Passer als "nicht gerechtfertigt" ab. Sie hielt in diesem Zusammenhang dem Vorsitzenden des Seniorenrats Karl Blecha (SPÖ) vor, dass er Pension von 172.749 Schilling beziehe. Vehement verteidigte Riess-Passer die Frühpensionierungsaktion im öffentlichen Dienst. Dem Vorwurf des STANDARD-Chefredakteurs, dass dies frühere Bundesbahnverhältnisse bedeute, entgegnete sie, dass diese Lösung für den Steuerzahler die günstigere und schonendere sei. (DER STANDARD, Print, 12.11.2001)