Wien - Im traumverzärtelten Theater Gruppe 80 kennt man die Gosse, mit deren Schrecken der sozialen Deklassierung wie der Herzverfinsterung Johann Nestroy lustig zähnefletschend droht, vielleicht vom Hörensagen - bloß zu tun haben will man mit ihr nichts. Denn Nestroy jongliert in dem Stück Mein Freund mit den Wörtern wie mit Kanonenkugeln: Er wirft sie noch höher als sonst. Sie schlagen beim Herunterfallen aber auch pfundschwer in das Stück ein, lauter abgrundtiefe, schwarze Sinn-Löcher hinterlassend, wo ansonsten die Figuren, mit Wörtern und Argumenten schier bis an die Zähne bewaffnet, im Modistinnen-Putz und Rüschen-Kitsch zu ebener Erde räsonierend herumstehen. Der Gumpendorfer Prinzipal Helmut Wiesner verrückt Nestroy in eine andere, sozusagen weltläufigere Sphäre. Er hat sich von Carlo Tommasi eine deckenhohe Bibliothek in die Gruppe 80 stellen lassen, weil nichts tröstlicher raschelt im Herbst der Seelen als ein stockfleckiges Buch - seit je der treueste Freund aller durch die Verhältnisse Erniedrigten und Beleidigten. Gewiss spielt Mein Freund auch unter dem "Deckeng'wölb'" einer Leihbücherei. Aber Wiesner steht der Sinn nach mehr: nach Jorge Luis Borges beispielsweise, nach Aleph und Omega, weswegen die missgelaunte Nestroy-Kundschaft, mit Alexander Lhotzky als einer wahren Herr-Karl-Figur von Bücherei-Diener, plötzlich ganz papieren wird: gilbend vor Weh, gelbstichig in ihrer schlafschweren Unbehaustheit, das höhere Töchterchen (Ariane Payer) vor einer Herbstlaub-Wohnkellertapete auf ihren Lesestuhl Schiller-schmachtend hingegossen. Kinder, wie das Lesen bildet! Es macht aber auch Flausen im Kopf. Und so fühlt man für einige, viel zu wenige Momente in dieser rechtschaffen übermüdeten Romanschrift-Stellerei mit dem gebeutelten Druckereifaktoren Schlicht (Thomas Kamper) herzlich mit. Er knüpft ganz hoch oben, dort, wo circa Johannes Mario Simmel neben Anne Golon zu stehen kommt, seinen Lebensstrick. Später noch wird Herr Johann Nestroy persönlich anrufen, als Telefongeist aus der drittobersten Bücherreihe. Es wird (zu) spät sein. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 11. 2001)