Wien - Zwei Tage lang stand das RadioKulturhaus in Wien im Zeichen des dunkelsten Kapitels des 20. und, wie zu befürchten ist, auch des 21. Jahrhunderts. Überwiegend US-Experten diskutierten auf Einladung des ORF, der Stadt Wien und der Hans Jonas Gesellschaft das Phänomen Völkermord. Mögliche Präventivmaßnahmen wurden sondiert, mit großer Hoffnung auf eine Zukunft ohne Genozid und Massenmord dürfte dennoch keiner der Teilnehmer das hochinteressante Symposium verlassen haben. Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Referentenliste sorgte für eine Vielfalt der Perspektiven. Am traditionsreichsten dabei der historische Ansatz, repräsentiert u.a. durch den in New York lehrenden John Weiss. Er fokussierte die hohe Anfälligkeit Österreichs für den Antisemitismus, wie sie sich in den 30er-Jahren fatal erwies. Eine wesentliche Ursache bildete laut Weiss die bereits Jahrzehnte zuvor feststellbare Tendenz des Katholizismus, das Judentum für sämtliche "Übel der Moderne" einschließlich der Säkularisierung verantwortlich zu machen. Ähnlich populistisch instrumentalisiert wurde das Judentum gemeinsam mit dem Kommunismus von der Christlichsozialen Partei bzw. gemeinsam mit dem Slawentum von der pangermanischen Bewegung unter Georg von Schönerer. Radikalisiert wurde dies durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Nicht nur anhand der NS-Zeit, auch anhand der "Säuberungen" des Stalinismus, anhand von Ruanda, Kambodscha, Kosovo, Bosnien oder auch des Genozids an den Indianern in Amerika wurde nach einem "Modell des Völkermords" gesucht, das die Entwicklung von Gegenstrategien oder Frühwarnsystemen ermöglichen könnte. Ohne eine Aufwertung des Völkerrechts, die Entwicklung einer weltweiten Kontrolle und Bestrafung im Fall von Übertretungen, waren sich etwa Jennifer Leaning und David Jones einig, wird ein Fortschritt in der Bekämpfung des Genozid-Phänomens frommer Wunsch bleiben. Die jahrzehntealte, seinerzeit auf Druck der Sowjetunion höchst allgemein gestaltete Völkerrechtskonvention der UNO lässt es nicht einmal zu, die in Relation zur Bevölkerung sogar den Holocaust übersteigenden Bluttaten der Roten Khmer als Völkermord einzustufen, wurde moniert. Ebenfalls kontraproduktiv für eine weltweite Ächtung des Völkermords sei es, wenn, wie derzeit im Fall des Balkans, die politisch und militärisch Verantwortlichen erst nach langem Zögern oder gar nicht vor Gericht gestellt würden. Dass die Etablierung aller Rechtsstandards nicht genügt, wenn sie nicht auf entsprechenden Werthaltungen fußt, unterstrich Dennis Papazian: "Solange die Sichtweise vorherrscht, der Mehrheit sei ein homogener Staat weit dienlicher als eine multikulturelle Gesellschaft, sind weitere Völkermorde zu befürchten." Den vielleicht wahrsten, aber auch bodenlosesten Ansatz vertrat der britische Historiker Mark Levene: Vergehen gegen die Menschlichkeit seien nicht "bloße Entgleisungen einzelner Gesellschaften oder Regimes", sondern "ein Symptom des allgemeinen Strebens nach Fortschritt, Machtaneignung und Unabhängigkeit. Genozid ist also eine Erscheinung, die in direktem Zusammenhang mit dem Emporkommen des westlichen Denkens und seinem geopolitischen Einfluss steht." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 11. 2001)