Im Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes steht: "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Was diese Bestimmungen der deutschen Verfassung in der Praxis wert sind, zeigt die Debatte um den Einsatz von Soldaten am Krieg gegen Afghanistan. Außenminister Joschka Fischer drohte den Parteifreunden mit seinem Rücktritt, sollten zu viele gegen den Regierungsantrag stimmen. Bundeskanzler Gerhard Schröder kündigte nun an, persönlich vor der für nächsten Donnerstag geplanten Abstimmung bei den Grünen um Zustimmung "zu werben".

Die grünen Parlamentarier sind hin- und hergerissen zwischen Koalitionsräson und eigener Überzeugung. Dass Abweichlern aus der SPD offen damit gedroht wird, sie nicht mehr bei der Erstellung der Wahllisten zu berücksichtigen, ist kein Trost. Die Grünen müssen sich an sich selbst messen lassen und an den hehren Prinzipien, die sie selbst einmal aufgestellt und in der Regierung sukzessive preisgegeben haben. Dazu kommt der Druck in den Wahlkreisen: Elf von 16 Landesverbänden haben sich gegen den Einsatz ausgesprochen, kein einziger dafür.

Dem Pazifismus verdanken die Grünen ihre parlamentarische Existenz. Mit einer Zustimmung zum ersten außereuropäischen Kriegseinsatz von deutschen Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg drohen sie, eine ihrer Wurzeln zu kappen. Damit dürfte auch die Unterstützung von Stammwählern weiter schwinden, was in Konsequenz den Wiedereinzug der Grünen in den Bundestag infrage stellt. Stimmen sie nicht zu, gefährden sie jedoch den Fortbestand der Koalition - wenn nicht sofort, so nach der Wahl im September kommenden Jahres. Denn die FDP steht als Koalitionspartner für die SPD bereit. Die grünen Parlamentarier werden sich entscheiden müssen: für die Macht oder für ihr Gewissen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 10./11.11.2001)