Jedes Mal, wenn wir in ein Auto steigen, gehen wir ein größeres Risiko ein, als es der Betrieb von Temelín darstellt: So fehlerhaft das Kraftwerk auch sein mag - die Wahrschein- lichkeit, durch eine Atomkatastrophe zu Schaden zu kommen, ist wesentlich geringer als die, beim Autofahren einen Unfall zu erleiden. Wir alle werden uns an diese Bedrohung gewöhnen müssen. Allenfalls gibt es kleine Verbesserungen, die das Risiko weiter senken. Das ist keine angenehme Perspektive, aber eine realistische. Umweltminister Wilhelm Molterer hat diesen Realismus eingemahnt. Es ehrt den Wirtschaftskammerpräsidenten Christoph Leitl, dass er Molterer beigesprungen ist. Die beiden stehen damit ziemlich einsam da. Allgemein herrscht in Österreich die Meinung vor, dass man das tschechische Kraftwerk einfach abschalten kann. Kann man aber nicht: Nicht nur dass der Schalter eben nicht in Österreich liegt - die Tschechen können, wollen und werden nicht abschalten. Sie können nicht abschalten, weil sie derzeit keine Alternative sehen. Sie wollen nicht abschalten, weil sie zudem beleidigt sind von der Form der österreichischen Proteste. Sie werden auch dann nicht abschalten, wenn das Energiekapitel in ihren Beitrittsverhandlungen noch monatelang offen bleibt. Denn das Offenhalten von Sachfragen gehört zum Ritual bei EU-Beitrittsverhandlungen. Dann wird eben bis zur letzten Minute gefeilscht - Österreich hat 1994 selbst gezeigt, dass man da noch Sondervereinbarungen (etwa beim Transit) herausholen kann. Und zur Not kann man immer noch nachbessern. Das alles wissen die Tschechen offenbar besser als die meisten Österreicher. Hierzulande besteht der Großteil der Temelín-Diskussion aus gegenseitigen Vorwürfen, nicht ernsthaft genug oder aus unlauteren Motiven gegen tschechische Atomkraft zu sein. Auch dieser innenpolitische Streit untergräbt Österreichs Position in Verhandlungen um Nachbesserungen in Temelín. (DER STANDARD, Print, 8.11.2001)