Wenn Leszek Krasinski, nachdem er eine Weile angestrengt durch das grüne Dickicht in die Tiefen des Waldes gespäht hat, jählings vom Weg abbiegt und mit großen Schritten durch das Unterholz schreitet, fällt es nicht leicht, mit dem hageren Mann Schritt zu halten. Ziel der frühmorgendlichen Pirsch im riesigen Urwald von Bialowieza im Osten Polens sind die zubr - Wisente. Doch heute deuten einzig ein paar verlassene Schlafstellen und beängstigend große, frische Spuren auf die Anwesenheit des größten europäischen Landbewohners in den Wäldern hin. Erst viel später, am nächsten Abend, steht unvermittelt ein einzelner Bulle wie eine Erscheinung im strömenden Regen am Rand von Budy, einem angrenzenden Dorf. Völlig regungslos schaut er minutenlang in Richtung der niedrigen Holzhäuser des Dorfes, seine runden, nach innen gedrehten Hörner glänzen im schwachen Schein der Straßenlaterne, bis er schließlich umdreht und im Dunkel verschwindet.

Ungleich seinen nordamerikanischen Verwandten bevorzugen die bis zu 900 Kilo schweren, scheuen Kolosse den Wald als Lebensraum. Einst über den ganzen Kontinent verbreitet, verschwanden mit dem Rückgang der großen europäischen Urwälder auch die Wisente langsam von der Bildfläche. Dass heute wieder rund 700 der zottigen Paarhufer durch das älteste polnische Naturschutzgebiet streifen, ist das Verdienst einiger hartnäckiger Zoologen, die bereits in den 20er-Jahren mit der Wiederansiedlung der im Ersten Weltkrieg ausgerotteten Tiere begannen.

"Hainbuche, Winterlinde, Fichte, Stileiche, Spitzahorn und Bergulme", schnarrt Teodor Iganowicz in perfektem Deutsch die wichtigsten Urwald-Baumarten herunter. Der beredte Förster führt die Besucher durch das Schutzgebiet, das ohne Begleitung nicht betreten werden darf. "Hier kann man sehen, wie der Wald in Europa vor 2000 Jahren ausgesehen hat." Zwischen umgestürzten Stämmen und kleinen sumpfigen Wiesen stehen mächtige, 40 bis 50 Meter hohe Baumriesen.

Erstaunlich licht ist der von einer zauberhaften Atmosphäre erfüllte Urwald, ganz anders als die dichten Monokulturen in Mitteleuropa. Hier wachsen die Bäume, bis sie eines natürlichen Todes sterben. "Mit bis zu 700 Jahren sind die Eichen die ältesten, doch auch Linden werden hier 400 Jahre, ein Alter, das sie in keinem Nutzwald erreichen", erklärt Iganowicz. Zur Bekräftigung deutet er auf die immense Krone, die sich über dem gut zwei Meter dicken Stamm ausbreitet. "65 Festmeter bestes Holz ließe sich aus einem einzigen solchen Baum gewinnen", merkt er an. An die sechs Milliarden DM (3,07 Mrd. Euro) betrüge nach vorsichtigen Schätzungen der Marktwert des Holzes von Bialowieza.

Dass sich der Urwald erhalten hat, ist letztlich den polnischen Königen zu verdanken, die in der unberührten Wildnis das ideale Revier für ihre Jagdleidenschaft fanden. Nach der Teilung Polens fiel Bialowieza in den russischen Machtbereich, Zar Alexander III. ließ sich hier 1890 ein luxuriöses Jagdschloss mit 120 Zimmern bauen. Eine eigens angelegte Bahnlinie ermöglichte die standesgemäße Anreise von St. Petersburg im Salonwagen. Das Schloss wurde 1944 von der abrückenden SS, deren Terror allein in Bialowieza über 1000 Menschen zum Opfer fielen, angezündet und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Im kommunistischen Polen war man mit dem zaristischen Relikt wenig glücklich, heute steht an der Stelle ein Konferenzzentrum.

Der Kommunismus sei eine eher schwierige Zeit gewesen, erzählt Czeslaw Okolow von der Parkverwaltung. Wissenschaftlicher Austausch existierte nur auf einer symbolischen Ebene, und es stand wenig Geld zur Verfügung. Allerdings garantierte die Popularität der Wisente immer einen regen Zustrom von Besuchern und so die Kontinuität der wissenschaftlichen Arbeit. Von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe blieb der Urwald, obwohl nur 550 km von Tschernobyl entfernt, weitgehend verschont. Als die radioaktive Wolke über Bialowieza zog, regnete es glücklicherweise nicht.

Maria Cwalirishu steht am Gartenzaun vor ihrem niedrigen Holzhaus an der staubigen Dorfstraße von Tereminski und plaudert unbeschwert über alle Sprachbarrieren hinweg mit den raren Passanten. In den Dörfern rund um Bialowieza scheint die Welt noch im 19. Jahrhundert zu verharren. Störche nisten auf den Telefonmasten, die Bauern pflügen ihre Felder mit Pferden, und in der Nacht ist aus den Wäldern tatsächlich noch das Geheul der Wölfe zu hören. Die östliche Grenzregion Polens, in der viele orthodoxe Weißrussen leben, gehört seit jeher zu den ärmsten des Landes. Früher gab es hier viele Kolchosen, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die Arbeitslosigkeit auf weit über 30 Prozent hochgeschnellt.

Einzig der grenzüberschreitende Kleinhandel mit den Nachbarländern hält die Region wirtschaftlich über Wasser. Mrówki, "Ameisen", werden die fliegenden Händler aus Weißrussland und der Ukraine genannt, die aus dem Kofferraum ihrer klapprigen Ladas oder aus dem Rucksack Wodka und Kaviar verkaufen, um den Erlös umgehend auf den vielen "Russenmärkten" der Region in Unterhaltungselektronik, Textilien oder ganze Schrankwände umzusetzen. Doch die EU drängt Polen, für seine östlichen Nachbarländer die Visumpflicht einzuführen. Der unbeschränkte Personen- und Warenverkehr im Schengenland droht sich hier als das genaue Gegenteil auszuwirken und die "Ameisenstraßen" stillzulegen.

Bialowieza setzt nun verstärkt auf den (West-)Tourismus, 200.000 Menschen sollen bald jedes Jahr den Urwald besuchen. Der Nationalpark ist zwar in die Tourismusplanung eingebunden, hat aber derzeit keine Möglichkeit, Einfluss auf die Entwicklungen des freien Marktes zu nehmen. Während die Parkverwaltung das eigene Konferenzhotel ausbaut, sind gleichzeitig zwei größere Hotels von Investoren aus Warschau und Bialystok im Entstehen. Einen sanfteren Weg hat eine Pension in Budy eingeschlagen. Hier wurden mit viel Einfühlungsvermögen mehrere traditionelle Holzhäuser adaptiert.

Doch das verschlafene Landleben der Region werden ein paar zusätzliche Touristen nicht aus der Ruhe bringen. Wie Maria Cwalirishu sitzt auch Leszek Krasinski jeden Abend vor seinem Haus, genießt die letzten Sonnenstrahlen des Tages und überlegt sich wohl schon, wo am nächsten Morgen am ehesten die zubr anzutreffen sind. Der Standard/Rondo 12.10.01