Einer der wichtigsten Sätze in der modernen Mathematik wurde 1931 in Wien publiziert. Woanders hätten die Glocken geläutet. Von Was ist Wahrheit?", lautet die berühmte Pilatusfrage, und George Bernard Shaw meint in Androcles und der Löwe: "Die Menschen glauben nicht notwendigerweise etwas, weil es wahr ist, sondern weil es auf irgendeine mysteriöse Weise mit ihren Vorstellungen übereinstimmt." Trotz allem aber: Letztlich wollen wir "Beweise", und darauf, auf "abgesicherten Argumentationen", beruht jede Wissenschaft. Nicht nur Gerichte fordern Beweise, jede Behauptung, ja jedes ernsthafte Gespräch tut dies. Andererseits wieder: Was ist ein Beweis, oder besser: Was lassen wir als solchen gelten? In verschiedenen Kulturkreisen und zu verschiedenen Zeiten fällt die Antwort oft verschieden aus, es gibt ja mannigfache Argumentationsbasen, oder es gelten verschiedene Ausgangspunkte als nicht würdig, weiter hinterfragt zu werden. "Logisch korrekt" aber sollten alle unsere Sätze sein, und das ist das Thema hier: die Logik, oder genauer, die "formale", die mathematische Logik. Der Erste, dem es gelang, "logische Sätze, Aussagen" als solche systematisch zu charakterisieren, war Aristoteles (384-322). Wir alle kennen Schlüsse wie etwa den Folgenden: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich: A-B und B-C, also A-C, formelmäßig ausgedrückt. Aristoteles' Werk war Grundlage der abendländischen Scholastik und der systematischen Untersuchung der Logik überhaupt. Bis zu I. Kant (1724-1804) wurde die Logik als Inbegriff der "Denkgesetze" gesehen, die als einzigartig und ehern vorgegeben gesehen wurden, die es aber zu erforschen und darzustellen galt. Erst B. Bolzano (1781-1848), allgemein ein Kritiker Kants, erkannte, dass in dieser auf das menschliche Denken bezogenen Sicht implizit auch psychologische Gegebenheiten eine Rolle spielen, und er forderte, die Logik durch Symbolisierung und Formalisierung davon zu befreien. Tatsächlich gelang dies erst G. Frege (1848-1925) in seiner berühmten "Begriffsschrift", die die Grundlage der so genannten Aussagenlogik ist. Das ist ein formaler Kalkül, wo nur mehr die Rede ist von Elementaraussagen, von Symbolen wie "und", "oder", "non A" und "daher" und deren Regeln. Damit war dann auch der Weg frei einzusehen, dass Logik nichts einheitlich Vorgegebenes ist und dass es durchaus mehrere Logiken geben könne. Aus der Sicht B. Russells und A. N. Whiteheads schließlich besteht um 1900 die gesamte Mathematik nur aus Folgesätzen der Art A-B; die gesamte Mathematik sollte eine Emanation der Logik sein und damit deren "Sicherheit" besitzen, wie man damals meinte. Und hier eben kommt die in der Überschrift genannte Beweisbarkeit ins Spiel: Der berühmte Mathematiker D. Hilbert (1862-1943) nämlich wollte - an die Formalisierung der Logik anschließend - die gesamte Mathematik in formalen Kalkülen darstellen, von denen er zu beweisen hoffte, dass sie "widerspruchsfrei" und "vollständig" sind. Ein Kalkül (z. B. der der Arithmetik, des Rechnens mit natürlichen Zahlen) besteht dabei aus einem Zeichenvorrat, aus daraus bildbaren "Formeln", aus Schlussregeln und aus gewissen unhinterfragt bleibenden Aussagen ("Axiomen" des Kalküls). Eine Aussage zu beweisen bedeutet, sie aus den Axiomen mit den jeweils gültigen Schlussregeln her- oder abzuleiten. Wenn nur die Axiome gelten, gilt dann die Behauptung als bewiesen. Vollständig heißt ein Kalkül, wenn man jede Aussage (Behauptung), die man im Kalkül überhaupt formulieren kann, entweder beweisen (im Sinn von herleiten) oder widerlegen (d. h. die Negation beweisen) kann. Sich auf das regelhafte Denken verlassend (Rationalismus), gestand man dann nur bewiesenen Aussagen Wahrheit zu; man hoffte sogar, alle Wahrheiten beweisen zu können. Und gerade dieser Sichtweise bereitete Kurt Gödel (1906-1978) ein Ende. Um diesen österreichischen Wissenschafter und um sein Hauptresultat soll es nun gehen: 1906 in Brünn geboren, studierte er an der Universität Wien, wo er nach seinem Studium als Assistent und später als Privatdozent tätig war. Ohne Zweifel ist er einer der renommiertesten Wissenschafter dieses Landes. Wie aber leider auch sonst oft, wurde er international viel früher anerkannt als hierzulande. 1939 ging er nach Amerika, wo er bis zu seinem Lebensende am "Institute for Advanced Study" in Princeton und in Freundschaft mit A. Einstein wissenschaftlich arbeitete. Gödel war nicht nur einer der größten Logiker überhaupt, er verfasste auch eine bekannte Arbeit über Kosmologie, ohne Zweifel von Einstein beeinflusst. Sein "Unvollständigkeitssatz" besitzt größte Bedeutung für die Grundlagen der Mathematik und für die Philosophie des 20. Jahrhunderts. ("Hätte ein Franzose diesen Satz bewiesen, hätten die Glocken von Notre Dame geläutet", meinte der berühmte Wirtschaftswissenschafter und Mathematiker O. Morgenstern gelegentlich). Was besagt nun dieser Unvollständigkeitssatz? Im Wesentlichen, dass es keinen widerspruchsfreien Kalkül gibt, der vollständig wäre (solange der Kalkül nur die Arithmetik und die Aussagenlogik umfasst). In einem solchen Kalkül (d. h. in praktisch jedem hinreichend umfassenden logischen "System") gibt es immer Sätze, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Der in Wien 1931 publizierte Satz ist "technisch" schwierig und ein wenig komplizierter: Er besagt, dass aus einem widerspruchsfreien Axiomensystem der Arithmetik niemals alle im Bereich der natürlichen Zahlen geltenden Aussagen abgeleitet werden können. Lässt man seiner Intuition größeren Spielraum, so bildet dieser Satz die bekannte Antinomie des Epimenides (7./6. Jh. v. C.) nach, wonach ein Kreter behauptet, dass alle Kreter lügen. (Besser: Gödel konstruiert einen arithmetischen Satz, der - nach Dekodierung - seine eigene Unbeweisbarkeit behauptet!). Wäre nun Wahrheit und Beweisbarkeit dasselbe, so hätten wir mit Gödels Satz eine Aussage, die zugleich wahr und unwahr ist. Nach Gödels Satz geht daher Wahrheit über Beweisbarkeit. Jene ist "stärker" als diese. Wenn das nicht interessant ist für Philosophen, was dann? Gödels Satz wird noch aussagekräftiger, wenn man bedenkt, dass ihn einige Mathematiker aus anderer Sicht reformuliert haben. So etwa A. Turing (1912-1954), der nicht nur als Erster das theoretische Konzept des Computers beschrieb, sondern dessen Formulierung des Satzes von Gödel diesem auch einen bedeutenden Platz in der Theoretischen Informatik sicherte. Philosophisch noch interessanter vielleicht ist eine Reformulierung des Gödelschen Satzes durch G. Chaitin von 1987: Von einer hinreichend langen Folge aus Nullen und Einsern kann - vereinfachend gesagt - prinzipiell nicht entschieden werden, ob die vorgegebene Folge einem Gesetz folgend gebildet wurde oder ob sie "zufällig" gebildet ist. Bei Anwendung auf konkrete Beispiele von Null-und-eins-Sequenzen kann man schlussendlich und grob gesagt folgern, dass die Zufallshypothese für die Entstehung des Lebens prinzipiell nicht bewiesen werden kann, die teleologische aber nicht widerlegt. Hans-Christian Reichel ist Professor am Institut für Mathematik der Universität Wien. Näheres - auf allgemein verständlicher Ebene - findet man z. B. in den Büchern "Naturwissenschaft und Weltbild" (Herausgeber H.-C. Reichel und E. Prat) oder in "Kurt Gödel - ein mathematischer Mythos" von W. DePauli-Schimanovich und P. Weibel (beide im Verlag öbv-hpt, Wien) sowie im Kultbuch "Gödel Escher Bach" von D. R. Hofstadter, deutsch im Verlag Klett-Cotta bzw. als dtv Taschenbuch. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.9. 2001)