Die Erscheinung von Rovenska . . . Der Titel lässt eine altbackene Heiligenerzählung erwarten, aber die Erwartung wird durchkreuzt, wie so oft in der Literatur. Die Erscheinung an der kroatischen Küste, auf der Insel Loinj, ist in Wahrheit ein grobschlächtiger Baumeister mit Wasserkopf, und der, dem sie erscheint, ist der Erzherzog Ferdinand Max, der spätere Kaiser von Mexiko. Beide werden sie in das ferne Land ziehen, wo es ebenso grausam wie grotesk hergehen wird. Dies ist, kurz gefasst, der Inhalt der ersten der neun Erzählungen dieses Bandes. In der zweiten erfahren wir von den wechselvollen Geschicken eines Rechtsanwalts, der in Triest zufällig bei James Joyce Englischunterricht genommen hatte, sich gern vom Furor der Geschichte ferngehalten hätte, aber von ihm - zwei Weltkriege, ein "Klassenkampf" - erbarmungslos hin und her geschüttelt wird. Wir erfahren weiters von den Augen des Ustascha-Führers Ante Pavelic und denen Albert Einsteins sowie von seltsamen Fetischismen, die dieses Organ zum Gegenstand haben; von einer alten Frau in Laibach, der ihr längst verstorbener Geliebter, den sie seinerzeit verlassen hatte, Briefe und poetische Prosa diktiert; von den Umtrieben der Inquisition im 16. Jahrhundert; von einer mannstollen, offenbar geistesverwirrten Frau, die sich in den Schnee legt und stirbt; von einem "Wortschmuggler", der zu verschiedensten Zeiten, mitunter auch gleichzeitig, da und dort auftaucht; von einem ruhigen und beängstigenden Sonntag in Mitterau an der Donau; von einer Wallfahrt nach "Kelmorajn" (Köln am Rhein) im Jahr 1776 oder 2000, deren zeitlicher und geographischer Verlauf dem Chronisten nicht klar werden will. Viele der Figuren, die der Autor auftreten oder erzählen lässt, sind ganz normal, bisweilen sind es die schlichtesten Gemüter, die Poesie produzieren. Oft entzieht sich das erzählte Ereignis einer genauen Bestimmung oder Bewertung. Es gefällt Drago Jancar, die mitteleuropäische Geschichte zu durchstreifen, kreuz und quer und auch über den Rand hinaus, aber die Geschichten, die er von diesen Streifzügen mitbringt, sind marginal. Aber dann rückt das Marginale ins Zentrum, nur dieses hat uns etwas zu sagen, das wir noch nicht wissen und das wir jetzt ahnen können. "Ahnen" ist eines von Jancars Schlüsselwörtern. Ahnungen sind dort am Platz, wo man weder wissen noch glauben kann. Dafür ist der Dichter zuständig; nicht für die "Hauptchronik", die der besoldete Chronist erzählt. Der Wortschmuggler sieht sich als Orpheus, der unter dem Karstgestein mit dem Sickerfluss wandert. Seine Geschichten sind unterschwellig, sie vollziehen sich an der Rückseite des Tagesgeschehens - oder manchmal vor aller Augen, aber mit jener Offensichtlichkeit, die bewirkt, dass niemand etwas merkt. Woran Jancar uns teilhaben lässt, ist die feine Unruhe der Literatur, der Wanderungen und der Verwandlungen, die den Rahmen von Raum und Zeit aufsprengen. Es ist merkwürdig, dass in der Literatur des 20. Jahrhunderts die Telepathie eine gewisse Rolle spielt, mehr oder minder explizit bei Autoren wie Pirandello, Cortázar, Tabucchi, Darrieusecq... Drago Jancar, wahrhaftig ein "Erzählkünstler von internationalem Format" (so Ulrich Weinzierl), befindet sich in dieser illustren Geheimgesellschaft. Nicht nur, weil er das Fernempfinden, zu dem auch das Telefonieren gehört, zum Thema diver- ser Erzählungen macht, sondern auch, weil er zwischen den Strängen und Ebenen seiner Texte Beziehungen herstellt, die dem Leser jene Ahnung von Bereichen vermitteln, die der Vernunft nicht zugänglich sind. Die Telepathie wird bei Jancar strukturell, sie legt sich wie ein unsichtbares Netz über den Text. Seine Parallelführungen erinnern äußerlich an die Montagetechniken, wie sie die Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts vor allem in Nord- und Südamerika ausgebildet hat. Als Dichter der Unruhe neigt Jancar jedoch dazu, mit den Identitäten seiner Figuren zu spielen und, umgekehrt, mit sich, dem Autor, spielen zu lassen. Er klärt den Leser letzten Endes nicht auf (über den Sinn seiner Geschichte oder gar der Geschichte), sondern verunsichert ihn und riskiert seinerseits, den Faden zu verlieren. Das gehört mit zum Spiel. Der Faden verschwindet, und er taucht wieder auf. Außer in der letzten Geschichte, die Der Rest der Geschichte heißt. (Von Leopold Federmair - DER STANDARD, Album, 1.09.2001)