Der Fragebogen, der in einem knappen Monat allen ÖGB-Mitgliedern vorgelegt wird, liest sich nur unwesentlich anders als: "Wir fordern, dass die Österreicher lieber reich und gesund als arm und krank sein sollen."

No na. Was den 1,442.393 Mitgliedern da vorgelegt wird, ist auf den ersten Blick ein harmloser Wunschzettel. Und auf den zweiten Blick ein schlampig formulierter harmloser Wunschzettel.

Da wird ganz ernsthaft gefordert, dass "Lohnerhöhungen und Arbeitszeiten weiterhin durch die Gewerkschaften in Kollektivverträgen geregelt werden". Was die allgemein bekannte Tatsache ignoriert, dass zu einem Vertrag wenigstens zwei Seiten gehören: Löhne (und ihre Erhöhungen) können von den Kollektivvertragspartnern Gewerkschaft und Arbeitgebervertretung "geregelt werden", nicht aber von Gewerkschaften allein.

Im selben hingeworfenen Satz wird auch gleich die alte gewerkschaftliche Forderung nach einer gesetzlichen Einführung der 35-Stunden-Woche und nach gesetzlich garantierten Arbeits- und Ruhezeiten (etwa nachts und am Wochenende) auf die Kollektivvertragsebene verlagert. So kann die ÖGB-Forderung doch wohl nicht gemeint sein.

Aber um solche Feinheiten geht es dem Gewerkschaftsbund nicht. Und er rechnet auch nicht mit einem Nein jener Gewerkschaftsmitglieder, die die Oberflächlichkeit und Angreifbarkeit solcher Fragestellungen vielleicht hinterfragen würden.

Erwartet wird ein sechsfaches Ja - man muss kein besonders engagierter Gewerkschafter sein, um "die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Dienste" zu fordern oder um zu verlangen, "die Zukunftschancen aller zu verbessern".

Nirgendwo findet sich in dem Fragebogen eine Alternative: So hätte man fragen können, ob die Mitglieder lieber Abfertigungen oder lieber höhere Pensionen haben wollen. Oder ob die Krankenversicherung lieber höhere Beiträge oder Selbstbehalte einheben soll. Um Sachfragen geht es der Gewerkschaftsspitze also gar nicht.

Sondern um die schwammig formulierte Aktionsfrage, nämlich ob der ÖGB "notfalls" auch gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen ergreifen soll. Ja natürlich, wann denn sonst, wenn nicht in einem Notfall?

Aber irgendwie gelingt es Verzetnitsch & Co. nicht, einen solchen Notfall plausibel zu machen. Und das hat nicht nur mit dem ungeschickten Verhalten einiger Postgewerkschafter zu tun, die dem ÖGB eine Vertrauenskrise beschert haben, indem sie sich üppige Gehaltserhöhungen zuschanzen ließen. Die seltsame Kommunikationsstrategie der ÖGB-Spitze passt zwar ins Bild - aber im Kern geht es ja nicht um den ÖGB, sondern um sein Gegenüber.

Ist die oft unentschlossen und unprofessionell agierende Bundesregierung ein ausreichend gefährlich erscheinendes sozialpolitisches Feindbild, dass gewerkschaftlicher Kampf bis hin zum Generalstreik gerechtfertigt erscheint?

Das ist sie offenbar nicht. Sonst könnte der ÖGB nämlich auch ohne eine Schein- abstimmung in den Kampf ziehen.

Würde die Sozialpolitik der Regierung allgemein als Bedrohung für die soziale Sicherheit in Österreich gesehen, dann hätte der ÖGB bei diesem Kampf nicht nur seine Mitglieder, sondern den Großteil der Bevölkerung hinter sich.

So schlimm ist es aber nicht. Daher muss der ÖGB versuchen, mit seiner als demokratiepolitisches Experiment getarnten Kampagne erst einmal Sensibilität zu schaffen. Muss propagieren, dass mögliche künftige Änderungen im Sozialsystem für den Einzelnen möglicherweise so schädlich sein könnten, dass man dagegen möglicherweise "notfalls" gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen setzen sollte.

Darin stecken allerhand Unwägbarkeiten. Statt diese auszuloten, sucht die ÖGB-Spitze einen Freibrief für spätere Beschlüsse - was für die Mitglieder gut ist, glaubt man in der Hohenstaufengasse schon zu wissen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 29.8.2001)